Eines der berühmtesten Leitmotive deutscher Bildungsgeschichte ist Adornos Satz von der „Erziehung nach Auschwitz“. Jede Debatte über die Ideale von Erziehung und Bildung sei „nichtig und gleichgültig“, so Adorno, wenn sie dieses Axiom nicht beinhalte: „dass Auschwitz sich nicht wiederhole.“ Das war 1966, und man kann nicht sagen, dass Schulen und Lehrerseminare das Mantra ganz oben auf ihre Prioritätenliste gesetzt hätten. Als vergangenes Jahr an der Goethe-Universität Frankfurt der Beschluß gefasst wurde, die NS-Pädagogik nicht mehr zu den regulären Bestandteilen der Lehrerbildung zu zählen, war die Bestürzung groß. Ausgerechnet in Frankfurt, da wo Theodor W. Adorno und Max Horkheimer das legendäre Institut für Sozialforschung gegründet und gelehrt hatten, sollte die Erinnerung an die Nazi-Gräuel zum Zwecke einer pädagogischen Programmatik keine „Credits“ mehr bringen. Der Fachbereich wehrte sich 2015 mit der Aussage, NS-Pädagogik sei ein Spezialfach – und machte den Skandal damit erst groß.
Kälte der gesellschaftlichen Monade
Tatsächlich haben sich nun einige Wissenschaftler zusammengetan, um in einem Symposium an der Universität Frankfurt (am Freitag im Casino der Universität, 9.30-16 Uhr) zu zeigen, dass die mit der „Erziehung nach Auschwitz“ assozierten Werte so generell sind, dass sie für jeden Lehrplan Relevanz haben: Heterogenität, der Respekt vor Minderheiten, das Erkennen und Abwehren von Hass und Extremismus, Dialog, das Achten auf Sprache und, ja, die Erinnerung an die Barbarei am Beispiel von Auschwitz, sind vielleicht lange nicht so aktuell gewesen wie heute.
Die Forscher beleuchten aus verschiedenen Perspektiven, wie sehr für sie "Erziehung nach Auschwitz" Ratgeber ist und operative Hinweise gibt. Historisch Benjamin Ortmeyer, der die NS-Pädagogik in Frankfurt vertritt. Der Bielefelder Psychologe Andreas Zick befasst sich mit der Radikalisierung von Jugendlichen. Sabine Andresen interessiert sich für die Ursachen von sexualisierter Gewalt. Egal, an welcher Stelle man in den Adorno-Text hineingreift, scheint er den Nerv heutiger Phänomene zu treffen: "Die Kälte der gesellschaftlichen Monade, des isolierten Konkurrenten, war als Indifferenz gegen das Schicksal der anderen die Voraussetzung dafür, daß nur ganz wenige sich regten", schrieb Adorno in seinem Rundfunk-Manuskript von 1966. Das passt auf die NS-Zeit – aber es klingt, als wäre es auf die Situation Jugendlicher im Netz geschrieben.
"Die einzig wahrhafte Kraft gegen das Prinzip von Auschwitz wäre Autonomie, wenn ich den Kantischen Ausdruck verwenden darf: die Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen.“ Adorno
„Die Gleise nach Auschwitz liegen noch“, hieß es jüngst in einem Kommentar in den sozialen Medien. Nun muss man nicht jeden Unsinn, der auf Facebook gepostet wird, zum Anlass für neue Bildungsziele machen. Dennoch ist das Spektrum an verstörenden sozialen und rhetorischen Tatsachen so groß, dass es geboten scheint, sich der Verrohung entgegenzustellen.
Kanzler-Galgen und Hass im Netz
Damit sind die Kanzler-Galgen genauso gemeint wie der Hass im Internet, es bezieht sich auf die Unfähigkeit der Kölner Polizei nicht weniger wie auf die Tatsache, dass Hunderte Frauen berichten, gruppenweise beklaut, begrapscht und sexuell genötigt worden zu sein – und das auf einem der öffentlichsten Plätze der Republik. Die anschließende kollektive Verwirrung hat bewiesen, wie bedeutsam humane Standards sind, an die sich alle Mitglieder eines Gemeinwesens zu halten haben. Und wie essenziell es ist, sie immer neu zu etablieren und durchzusetzen, und das übrigens an allen öffentlichen Plätzen, also auch im Internet und seinen Foren.
Ganz sicher muss „Erziehung nach Auschwitz“ unter diesem Titel kein neues Schulfach oder ein x-tes Modul in der Lehrerbildung werden. Es braucht keine Ringvorlesungen dieses Namens und auch kein Buch, das die alten aktuellen Sätze Adornos wiederholt. Die Wertedebatte ist nicht mit dem Grundgesetz unter dem Arm möglich, das wissen Lehrer, die in den mehrheitlich arabisch-muslimischen Schulen Berlin-Neuköllns oder Hamburg-Wilhelmsburgs unterrichten, am besten. Aber der Dialog der Kulturen muss tägliche Übung sein, das ist bei über 300.000 Schülern, die durch Zuwanderung neu in die Schulen kommen, überall nötig.
Am Wochenende trafen sich 160 Jugendliche in Nürnberg ("Keine Diskussion!), um über Demokratie und politischen Extremismus zu sprechen, linken, rechten und salafistischen. Es war faszinierend, zu sehen, wie engagiert diese Jugendlichen betonten, mit Extremen das Gespräch zu suchen und mit ihnen möglichst lange im Gespräch bleiben zu wollen. Die 16-21jährigen taten es übrigens aus ihrer täglichen Praxis in politischen Initiativen, Vereinen und Clubs heraus. Keiner von ihnen hat Adorno gelesen. Verstanden haben sie ihn dennoch. Man konnte dort in vielen Workshops und Diskussionsrunden hören, was der Frankfurter Professor so ausdrückte: "Die einzig wahrhafte Kraft gegen das Prinzip von Auschwitz wäre Autonomie, wenn ich den Kantischen Ausdruck verwenden darf: die Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen.“
"Erziehung nach Auschwitz": Goethe-Universität Frankfurt/Main, 29. Januar 2016, 9:30-16 Uhr, Campus Westend, Casino, Raum Cas. 1.811
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