Vor 15 Jahren wurde die erste Pisa-Studie erhoben. Die Veröffentlichung dieses internationalen Vergleichs von Schülerleistungen löste in Deutschland einen Schock aus. Plötzlich waren nicht mehr Dichter wie Thomas Mann oder Johann Wolfgang von Goethe die Helden der Nation – sondern der Risikoschüler und der „funktionale Analphabet“. Ein Viertelder deutschen Schüler konnte nämlich kaum lesen. In keinem einzigen der 16 Bundesländer gab es im Jahr 2000 mehr gute als schlechte Schüler. Selbst beim ewigen Pisa-Sieger Bayern überwog die Zahl der Risikoschüler die der Topeleven. Was die Bürger aber am meisten erschreckte, war, dass die Kompetenzen der Schüler von der sozialen Herkunft bestimmt waren. Die Pisa-Studie offenbarte ständische Muster im Bildungswesen. Auf Deutsch: Die Erfolge des Kindes richteten sich nach Einkommen und Status der Eltern.
In diesen Tagen finden viele Jubiläumskonferenzen über den Pisa-Schock statt – und überall wird Entwarnung gegeben. Die Leistungswerte der Schüler haben sich verbessert. Die deutschen Schüler sind im Ranking über den Durchschnitt in der OECD hinausgeklettert. Vor allem die Migranten erwerben viel bessere Kompetenzen, die Zahl der Gymnasiasten ist geradezu explodiert. Deutschland hat seine Lektion aus Pisa gelernt, heißt die Botschaft. Der Erfinder der Pisa-Studie, Andreas Schleicher, preist die Deutschen überall in der Welt als die Reform-Musterknaben.
Eine der Erfolgsschulen steht in Berlin-Neukölln. Sie heißt Rütli-Schule und hat Berühmtheit erlangt, weil ihre Lehrer 2006 in einem Brief erklärten, sie gäben auf, sie könnten nicht mehr. Wie auf einer belagerten Burg hissten die erschöpften Pädagogen die weiße Fahne. Genau diese Schule hat sich nun von einem Ort des Versagens in einen der Hoffnung gewandelt. Heute erringen dort junge Leute das Abitur, die früher nicht mal die Hauptschule abschlosssen. Die Rütli-Schule wurde zum modernen Märchen von Aschenputtel. Sie zeigte: Es ist möglich, mit großem Engagement eine Unterschichtfabrik in eine tolle Schule zu verwandeln.
Aber die Rütli-Schule ist dummerweise auch ein Beispiel dafür, dass wir in Wahrheit nicht genug investieren, um aus Brennpunkt-Schulen Einrichtungen des Erfolgs zu machen. Warum war es denn nur an dieser einen von 55 Berliner Hauptschulen möglich, entschlossen gegen die Schulkrise vorzugehen? Warum wurde nur an der Rütli-Schule so massiv investiert? Dort hat man sogar eine Straße stillgelegt, um den „Campus Rütli“ zu gründen. Beinahe jede deutsche Stiftung hat inzwischen ein Rütli-Projekt. Was aber ist mit den Hunderten anderen Haupt- und Ghettoschulen, etwa im Ruhrgebiet oder in den innerstädtischen Risikovierteln? Jeder Bildungspolitiker in Deutschland kennt seine failed schools. Die vielen Studien seit Pisa führen uns ihre Probleme im Detail vor Augen. Aber energisch reformiert haben Politik und Zivilgesellschaft nur einen Bruchteil dieser Schulen.
Solange es eine Gesellschaft zulässt, dass es solche Schulen der Hoffnungslosigkeit gibt, ohne ihnen unter die Arme zu greifen, solange kann sich niemand freuen, dass der Pisa-Schock überwunden sei. Es reicht nicht, die Abiturzahlen an den Gymnasien zu erhöhen. Es geht um die Verliererschulen, die wir stärken müssen. Das gilt gerade angesichts der Tatsache, dass Zehntausende Flüchtlingskinder ins Schulsystem kommen. Der Palästinenserjunge aus Neukölln und der aus Jarmouk haben ein Recht auf Hoffnung. Und auf Bildung.
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