Krise einer Anstalt

Erfurt und Pisa Das Gymnasium trägt Verantwortung für die Kränkungen des Bildungssystems

Seine Tat mag monströs gewesen sein. Ein Monster aber war der Amokschütze von Erfurt nicht. Alle Porträtierungen schildern Robert Steinhäuser als einen eher zurückhaltenden, intelligenten jungen Mann. In den Worten einer ehemaligen Mitschülerin bekommt er sogar sympathische Züge: offen und witzig sei der "Steini" gewesen. Der 17-fache Todesschütze war nicht der "Wahnsinnige", als den ihn mancher Politiker am vergangenen Wochenende beschrieb. Er war einer von uns.
Wenn der Täter kein Irrer war, welche Situation hat ihn dann zu dem Massaker fehlgeleitet? Eine Reihe von Faktoren scheinen naheliegend und wurden ja bereits intensiv diskutiert. Kaum zur Sprache aber kommt bislang eine wichtige Institution: Das Gymnasium und mit ihm die deutsche Schule. Spätestens mit Erfurt offenbart sich die Krise des Paradestücks deutscher Bildung in vollem Ausmaß. Seine Vorzeigeanstalt, das Gymnasium, versagt emotional und kognitiv. Betroffen war keine Hauptschule an einem sozialen Brennpunkt mit hohem Ausländeranteil, jene Schule also, die für das alltägliche Thema Gewalt in der Schule steht. In Thüringen hat es eine Vorzeigeeinrichtung des Bürgertums erwischt. Schon äußerlich ist das Gutenberg-Gymnasium so ziemlich das solideste, was man sich vorstellen kann. Eine Schule, auf die viele ihre Kinder gerne schicken würden - und eine mögliche Heimstatt außergewöhnlicher, finaler Gewalt in der Schule. Das lässt sich an den Ähnlichkeiten zu anderen Schulmassakern ablesen.
Auch die Columbine High School im US-amerikanischen Littleton, wo die letzte Schulschießerei mit mehr als einem Dutzend Toten stattfand, war eine Aufstiegsagentur der weißen Mittelklasse. Die zwei jungen Männer, die dort ihre mörderischen Pläne ausheckten und exekutierten, waren Robert Steinhäuser durchaus ähnlich. Intelligent, keine Sonderlinge - aber mit dem sicheren Gefühl, Versager zu sein. Weil sie bereits an der ersten und wichtigsten Karrierestation zu scheitern drohten. Die beiden entwickelten über lange Zeit einen ungeheuren Hass, der aus Nichtanerkennung und Kränkung resultierte - und den niemand ernst nahm. Dylan Klebold und Eric Harris schritten wie Kopfgeldjäger durch ihre High School. Sie richteten jene hin, die ihnen am meisten verhasst waren: Schüler, die besonders klug, erfolgreich oder beliebt waren. Jene also, die in der klar strukturierten Oben/Unten-Gesellschaft der amerikanischen High Schools für die schlimmsten Kränkungen von Klebold und Harris verantwortlich waren. High Schools sind kleine Kopien der amerikanischen Gesellschaft. Die Wettbewerbs-Atmosphäre in ihnen wird über In- und Out-Gruppen wie die erfolgreichen "Jocks" oder die ausgestoßenen "Schwulen" für viele Schüler ins Unerträgliche gesteigert.
Das deutsche Gymnasium funktioniert im Detail anders, in der Wirkung ähnlich. Auch Robert Steinhäuser zielte auf jene, die ihn zutiefst gekränkt hatten - die Lehrer. Sie sind in der Schulform, die in Deutschland den Aufstieg repräsentiert, für die Entscheidung über Oben und Unten zuständig. Steinhäuser stand vor dem schulischen Nichts, weil ihn die Schule - nach einem ersten misslungenen Abi im vergangenen Jahr - vor wenigen Wochen erneut ausgeschlossen hatte. In Thüringen aber sieht das Gymnasium laut Gesetz gar keinen anderen Abschluss als das Abitur vor. Um einen Abschluss zu erringen, hätte Steinhäuser einen Spießrutenlauf durch die Kultusbürokratie beginnen müssen. Was an den US-High Schools der Druck der Ingruppen schafft, besorgt hierzulande das Schulgesetz - es definiert Versager. An Steinhäusers Schule nahm offenbar niemand die Kränkung ernst, die den späteren Mörder von 16 Menschen, darunter 12 LehrerInnen, quälte.
Dass unsere Schulen, insbesondere die Gymnasien, einen Sensor für Kränkungen nicht besitzen, ist kein Zufall. Das Emotionale hat keinen Platz in der Struktur von Klingelzeichen, strikter Fächerteilung, penibel vorgeschriebenen Lehrinhalten und einem Notensystem, das für Auf- oder Abstieg wichtig ist. Für Robert Steinhäusers schlechte Gefühle gab es keinen Repräsentanten mehr - hätte er sich etwa an den Vertrauenslehrer der Institution wenden sollen, die ihn gerade hinausgeworfen hat?
Tatsächlich gehört die Kränkung im Gymnasium zum System, ja sie ist, weil man ja messen muss, wer dumm und wer schlau ist, konstitutiver Bestandteil der ganzen Schule. Die Idee des Gymnasiums beruht vordergründig auf Leistung und schafft Elite. Mindestens genauso wirksam ist aber die Kehrseite dieses Konzepts: Auslese, Abqualifizierung, Abstoßung ins Versagertum. Wer mitkommt, kann zu den Siegern gehören; wer nicht mehr Schritt halten kann, ist auf jeden Fall ein Verlierer - weil er an der ersten und wichtigsten Karrierestation scheitert. Dass sich jemand mit dem von der Schule Verwiesenen fürsorglich befasst, ist nicht vorgesehen.
Es ist schrecklich genug, dass sich nun alle fragen müssen, warum niemand im Gutenberg-Gymnasium da war, der den vermeintlichen Versager auffangen konnte. Aber der vielfache Tod von Erfurt erscheint umso makabrer, da die Eliteeinrichtung Gymnasium selbst ein schrecklicher Versager ist. Das deutsche Schulkonzept sieht so aus, dass nur die Besten auf das Gymnasium dürfen. Dafür wird bereits ab der vierten Klasse ein rigides Konkurrenzsystem inszeniert. Gleichzeitig verfehlt dieses System seine Ziele komplett - das hat nicht nur der internationale Schüler-Vergleich Pisa bewiesen. Auch die Sozialerhebung des Studentenwerks und andere OECD-Studien zeigen, dass Deutschlands Schulen besonders wenige Spitzenkräfte hervorbringen und dass die Leistungsabstände zwischen Elite und Versagern viel größer als in anderen Ländern sind.
Strenggenommen bedeuten Pisa und die Ergebnisse anderer Studien: Das Gymnasium ist aus kognitiven Gründen nicht mehr haltbar. Als Spitzeneinrichtung der Leistungsgesellschaft erzwingt es eine unübersichtliche Schulstruktur - die an ihrem Ende nur mehr Auffangbecken für Gescheiterte bieten kann. Schüler werden früh zu Versagern gestempelt und gehen so als wichtige Begabungsreserve verloren. Für das Gymnasium müssen in allen Schulen homogene Lerngruppen gebildet werden, obwohl es sich in heterogenen nachweislich besser lernen lässt. Finnische, schwedische, kanadische und südkoreanische Einheitsschulen produzieren eine bessere und breitere Elite sowie viel weniger Versager als hierzulande.
Der deutschen Schule gelingt es aus strukturellen Gründen nicht, genügend hochschulfähige Absolventen bereit zu stellen. Das haben verschiedene Studien festgestellt. In Erfurt zeigt sich nun, dass die Regularien des Gymnasiums Schüler in die Ausweglosigkeit treiben (können). Es ist höchste Zeit die Ideologie der Auslese zu überprüfen, die sich offenbar auf das gesamte Schulsystem und die Schüler destruktiv auswirkt.

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