Dass Berlin und Bremen schlechte Pisa-Ergebnisse einfahren, wird inzwischen nur noch schulterzuckend hingenommen.Nun aber hat ein Bundesland schlechte Noten bekommen, das bisher meist als Klassenbester galt: beim Autobauen, beim Wirtschaftswachstum und bei den Schülerleistungen. Vorbei. Baden-Württembergs Schüler rangieren im jüngsten deutschen Schulvergleich nur noch eine Nasenlänge vor den ewigen Pisa-Verlierern. Bei den ersten Schultests im Jahr 2000 waren die jungen Schwaben und Badener noch weit vorne gelandet. Baden-Württembergs Grundschüler belegten Platz eins in ganz Europa, die Neuntklässler Platz 2 – knapp hinter Bayern.
Hinter dem Ländervergleich steht mehr als eine Bundesligatabelle für Schüler. Es geht vor allem darum
klässler Platz 2 – knapp hinter Bayern.Hinter dem Ländervergleich steht mehr als eine Bundesligatabelle für Schüler. Es geht vor allem darum, wie viele sogenannter Risikoschüler es in einem Bundesland gibt. In Bremen sind es im Fach Deutsch (Lesen) 36 Prozent, in Berlin 30 Prozent, dann kommen bereits Hamburg, Hessen, NRW – und Baden-Württemberg mit fast 26 Prozent. Der Südwesten ist neu in dieser Verlierergruppe. Was bedeutet das? Ein Viertel der 15-jährigen Schülerinnen und Schüler im Ländle können nicht sinnvoll wiedergeben, was sie gelesen haben. Das bedeutet, sie sind technisch in der Lage zu lesen, aber sie verstehen die Bedeutung der Sätze kaum, die sie da konsumieren. Für das Land, in dem Mercedes, Porsche, das Milliardenunternehmen Würth und etliche mittelständische Weltmarktführer zuhause sind, ist das eine kleine Katastrophe. Entsprechende hysterisch fielen die Reaktionen aus.Gemeinschaftsschule wird zum SündenbockSchnell war ein Schuldiger für den Absturz gefunden: die Schulreformen der grün-roten Koalition seit dem Jahr 2011. Dazu gehörte die Abschaffung der Übergangsempfehlung der Grundschule und das Fallen der Notenschranke beim Wechsel auf die Berufsfachschule. Die größte Wut der Kritiker entzündete sich an der Gründung von fast 300 Gemeinschaftsschulen in Baden-Württemberg: „Mit Maßnahmen wie der Einführung der Gemeinschaftsschule ohne Noten und Sitzenbleiben“, sagte etwa der FDP-Politiker Timm Kern, „hat Grün-Rot dem Leistungsgedanken einen Bärendienst erwiesen.“Die Gemeinschaftsschule ist eine integrative Schulform, die aus der Fusion von Haupt- und Realschule entsteht. An ihr können Schüler perspektivisch auch Abitur machen.Allerdings haben die Kritiker gleich ein doppeltes Problem in ihrer Argumentation. Zum einen hatten die Gemeinschaftsschüler an dem Test, der Baden-Württemberg in den Tabellenkeller beförderte, gar nicht teilgenommen. Für den Ländervergleich mussten Neuntklässler Verständnisaufgaben lesen und lösen – aber zum Messzeitpunkt hatten die Gemeinschaftsschulen noch gar keine neunten Klassen. Zum anderen gibt es ein zweites Bundesland, das in großer Zahl Gemeinschaftsschulen eingeführt hat: Schleswig-Holstein, der große Aufsteiger beim Ländervergleich. Im Lesen kam Schleswig-Holstein beispielsweise auf Platz 2 – vor Bayern. Interessant ist auch hier der Blick auf die Risikoschüler: davon gibt es im hohen Norden nur noch 17 Prozent.Die Wissenschaftler wissen nicht genau, woran es liegt, dass die Schüler aus dem Land der Häusle- und Autobauer so schlechte Noten bekommen haben. Sie vermuten jedoch, dass Schulreformen grundsätzlich Unruhe in eine Schulsystem bringen. „Ein Land sollte sich sehr genau überlegen, ob es seine Schulformen ändern sollte“, sagte die Leiterin der Studie, Petra Stanat von der Humboldt-Universität in Berlin. Tatsächlich wurde sofort Ruhe für den Patienten Schule in Baden-Württemberg verordnet. Es werde keine weitere Debatte über Schulformen geben, versprach die Schulministerin, Elisabeth Eisenmann (CDU). Das heißt aber auch, dass es kein Zurück der grün-roten Reformen gibt. „Es ist kein Thema für uns, an der Existenz der 299 Gemeinschaftsschulen zu rütteln“, sagte Eisenmann.Schulreformen brauchen ZeitDie Reaktion aus Baden-Württemberg ist nicht neu. Es ist der Schweinezyklus beinahe jeder Schulreform. Erst wird etwas verändert – und danach soll ganz fix Schulfrieden einkehren. Was dabei übersehen wird ist, dass die schnelle Verbreitung der Gemeinschaftsschulen weniger ein ideologisches Projekt grün-roter Schulreformer war, sondern aus blanker Not entstand. Denn im Südwesten stand das Sterben Hunderter Werkrealschulen bevor – wegen Schülermangels. Um drei Schularten mit Schülern zu bestücken, reichte aber vielerorts schlicht die Zahl der Kinder nicht mehr aus. Deswegen griffen beinahe 300 Gemeinden nach dem Strohhalm Gemeinschaftsschule, um ihre Schule vor Ort zu retten.Auch der Unterschied zwischen Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein sagt einiges aus. Der Norden nahm das Projekt Gemeinschaftsschulen bereits vor zehn Jahren in Angriff. Dort war der Kampf um die Schule für alle noch viel heftiger als in Baden-Württemberg. Inzwischen ist die Gemeinschaftsschule in Kiel, Flensburg, Lübeck und andernorts anerkannt, und geht mit einer konsequenten Leseförderung für Schulen mit schlechten Ergebnissen einher. Die Operation war erfolgreich, die Narben sind sozusagen verheilt. Im Südwesten hingegen ist die Schulreform kaum vier Jahre alt. Sie kann noch nicht greifen, weil die Wunden der Umstellung noch zu frisch sind.Die Forderung nach Schulfrieden ist Ideologie. Der vermeintliche Frieden wird propagiert, um nichts an den oft starren Strukturen von Schule ändern zu müssen, etwa das gegliederte Schulsystem. Es beschleunigt das Schulsterben in der Regel. Kaum ein Flächenland hat heute noch Schülerzahlen, mit denen sich drei Schulformen füllen ließen. Wenn es aber um unsinnige Vor- und Zurückreformen geht, dann sind es genau dieselben Schulpolitiker, die den Schulfrieden zu brechen bereit sind. Das geschieht etwa bei der Verkürzung des Gymnasiums auf eine Laufzeit von acht Jahren – und die hektische Rücknahme dieser Reform.Mehrere Bundesländer wollen die G8-Reform, die insgesamt zehn Jahre dauerte, nun wieder rückabwickeln, zuletzt hat dies Nordrhein-Westfalen verkündet. Das bedeutet, dass am Ende 20 Jahre vergangen sein werden, um das verkürzte Gymnasium erst einzuführen – und dann wieder in die Länge zu ziehen. Schule als Kartoffelacker: Rein in die Reform, raus aus der Reform. Ohne jeden Schulfrieden.
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