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Universität Eine neue Untersuchung zeigt: Die Studierenden von heute interessieren sich nicht für Proteste, sondern für Ordnung und Planbarkeit
Ausgabe 41/2014
Semesterbeginn: Die deutschen Studenten sind so unpolitisch wie nie
Semesterbeginn: Die deutschen Studenten sind so unpolitisch wie nie

Fotos [M]: AP / dpa, Aigarsr / Fotolia (rechts)

Im November 1989 befragten Sozialforscher Studenten in Leipzig, Dresden, Halle und Jena über ihre Politisierung. Was die jungen Leute damals angaben, hätte der SED zur Ehre gereicht: Neun von zehn Studenten wollten einen „besseren, reformierten Sozialismus“ als Gesellschaftsform. 95 Prozent versprachen, sich mit aller Kraft für die Erneuerung in der DDR einzusetzen. Und immerhin acht von zehn Studenten sagten, sie seien gegen einen Zusammenschluss mit der BRD, wie es damals hieß.

Die Forscher um die Grande Dame der DDR-Empirie, Uta Starke, waren wohl selber ein bisschen überrascht. Plädoyer für unser Land titelte Starke ihren Forschungsbericht damals in der Leipziger Uni-Zeitung. Die Zahlen können als valide angesehen werden. Wenige Wochen später nämlich befragte eine französische Forschergruppe Studierende der Berliner Humboldt-Universität, alles natürlich inoffiziell. Auch in Berlin waren 71 Prozent der Studenten gegen einen Zusammenschluss mit Westdeutschland.

Von heute aus betrachtet muss das eine Zeit paradoxer Hoffnungen gewesen sein. Während das kleine Land in einem dramatischen Wechselspiel zwischen Ausreisern und Dableibern von Tag zu Tag mehr verschwand, waren die Studenten jedenfalls noch klar für die Alternative. Jenen bürokratischen Sozialismus à la Honecker und Krenz wollten sie sicher nicht mehr, aber vielleicht mal einen demokratischen Sozialismus probieren? Im November und Dezember 1989 war das noch so. Keine drei Monate später sah das Bild vollkommen anders aus. Die Frager waren die gleichen, die Antworten aber schienen wie von einem anderen Stern: Jetzt waren 68 Prozent der Studierenden für eine Wiedervereinigung.

Das, was vor 25 Jahren passierte, war immerhin eine Revolution, es hat unser aller Leben grundlegend verändert. Von daher verbietet sich Spott über eine eventuelle Wendehälsigkeit. Aber vielleicht sollte man – zur Beruhigung und Relativierung – den Drei-Monats-Erdrutsch damals im Hinterkopf haben, wenn man sich die neuesten Zahlen über die politischen Haltungen der deutschen Studierenden des Jahres 2013 ansieht. Denn hier ist eine Art Allzeittief beim politischen Engagement der traditionell politischsten Bevölkerungsgruppe zu verzeichnen: Nur noch ein Drittel aller Studierenden schätzt sein allgemeines politisches Interesse als „sehr stark“ ein. Bei Fachhochschülern nennen sich gar nur 25 Prozent politisch sehr interessiert. Die Vergleichswerte lagen im Jahr 2000 immerhin noch bei 46 Prozent.

Nun kann man nicht sagen, dass die Studentenforscher wegen solcher Zahlen Nervenzusammenbrüche erleiden würden. Man sollte nicht dramatisieren, meint etwa Tino Ernst Bargel von den Konstanzer Hochschulforschern; der ewige Vergleich zu den 68ern sei nicht hilfreich, um die heutige Studentengeneration zu verstehen. Dennoch ist es ratsam, den Blick noch einmal auf einigen ausgewählten Daten des sogenannten Studentensurveys ruhen zu lassen, die dem Freitag exklusiv vorliegen. Dann kann man erahnen, was studentisches Engagement heute bedeutet: Nichts mehr. Kurz gesagt: Es ist kaputt, die Werte nähern sich teilweise der Null an.

Droht ein Rechtsruck?

Zwei Drittel der Studierenden geben an, dass sie „studentische Politik“ einfach nicht interessiert. In Organen der Hochschulen arbeiten nur noch zwei Prozent überhaupt mit. Bei den politischen Studentenvereinigungen sind noch 4 von 100 aktiv. Und selbst die Mitarbeit in informellen studentischen Initiativen schlägt gerade mal acht Prozent der Studenten in den Bann.

Der Niedergang der autonomen Seminare und freien Gruppen ist vielleicht der niederschmetterndste Wert der Befragung, die hoffentlich demnächst mit dem Segen von Bundesbildungsministerin Johanna Wanka (CDU) veröffentlicht wird. Dass sich für die mitunter sterbenslangweilige AStA-Politik und die Sitzungsarbeit kaum jemand interessiert, ist ja nicht besonders neu. Dass aber auch die freischwebenden Radikalen die Studis nicht mehr vom Hocker reißen, muss überraschen. Aus solchen Initiativen sind viele universitäre Innovationen hervorgegangen; man denke nur an den Super-Bachelor-Studiengang Freiburger Aktivisten oder den Reformstudiengang Medizin in Berlin.

Aber: Das war einmal, aus, vorbei. In der Auswertung sprechen die zuständigen Forscher von einem „hohen Ausmaß an Desinteresse und Apathie“. Solche Worte wählen Empiriker, die an Korrelationen, Regressionen und feinsten Veränderungen interessiert sind, normalerweise nicht. Nun tun sie es.

Was aber bedeutet diese Apathie der Studenten? Woher kommt sie? Und driften Studis in Zukunft sogar nach rechts? Das sind wichtige Fragen, immerhin ist diese Studentengeneration so groß wie keine vor ihr. Vielleicht wird sie ja auch so gefährlich wie keine andere? Erinnern wir uns, als damals im Jahr 1968 in Berlin und Frankfurt die Studentenrevolutionäre auf die Straße gingen, da reichte ein winzige Minderheit von Radikalinskis innerhalb der Minderheit von Studierenden, um die Bundesregierung, die Bild-Zeitung und die Prügelperser des Schahs auf die Palme zu bringen. Und 1988, als in Berlin für viele Wochen Teile der b*FREIten Universität lahmgelegt oder gar besetzt waren, da machten die kritischen Studierenden auch nur einen kleinen Anteil des Jahrgang aus. Heute aber gibt es 2,6 Millionen Studierende. Was also ist, wenn der Studentenberg nach rechts rutscht?

Er rutscht nicht. Das versichern die Empiriker, wobei Befrager natürlich keine Garantien ausstellen können. Auch wenn sich in den Studentenbefragungen einige Punkte finden, die auf Apathie und Oberflächlichkeit hindeuten, Anzeichen für rechtsextreme Neigungen gibt es nicht: Nur ein einziges Prozent der Studierenden sagt, dass sie gefestigt rechts sind; 65 Prozent dagegen geben rot-grüne Neigungen zu. Auch sehen sich die Studierenden zwar nur noch zu 16 Prozent als überzeugte oder gefestigte Demokraten, aber mit überwältigender Mehrheit sind sie für das Recht auf Demonstrationen (82 Prozent). Zudem sind die Studierenden zu 88 Prozent gewaltfrei. Es gebe keine Anzeichen dafür, sagt etwa Tino Bargel, dass diese Generation anfällig ist für rechtsextreme Versuchungen.

Die Ursache für die Lethargie ist übrigens nicht der Bachelor. Zwar zwängt das neue System die Studenten in sehr enge Zeitkorsette. Viele klagen über eine starke Überlastung, da erlahmt der Wunsch, ins Ausland zu gehen – und sicher leidet auch das studentische Engagement darunter. Allerdings hat der Niedergang des Revolutionären oder auch nur Aufmüpfigen bei den Studenten bereits vor dem Bachelor eingesetzt. Der neue straffe Abschluss habe die Entwicklung verstärkt und vertieft, geben die Forscher zu Protokoll, nicht verursacht.

Wenn der Bachelor die Politisierung der Studenten beeinflussen würde, dann wäre der 2013er-Jahrgang sicher der beste gewesen, um das zu messen. Denn der Abschluss befindet sich gerade mit 300.000 Absolventen auf dem ersten Höhepunkt seit seiner Einführung. Die Bachelors selber übrigens sind sehr cool, wenn man sie nach ihren Zeitbudgets befragt. Ja, das störe schon ein bisschen, merken sie dann an. Aber: Wenn’s mir wichtig ist, dann nehme ich mir die Zeit dafür.

Das ist vielleicht die wichtigste Erkenntnis: Die aktuelle Studentengeneration lässt sich nicht so leicht auf bestimmte Ideologien festlegen. Sie ist berechnend pragmatisch im besten Sinne: Studiosus oeconomicus. Der Studiosus politicus ist total out. „Vielleicht ist das eine Generation weit nach den 1968ern, die ganz bewusst ins Gegenteil umschlägt, weil ihr deren Politisiererei auf die Nerven geht“, sagt Lea-Verena Meingast, eine Journalistikstudentin aus Erlangen. Die Studenten 2014 überlegen ganz genau, was sie investieren wollen – und sie fragen, was sie dafür bekommen. Das sagen Forscher, die Studenten selbst und auch Dozenten.

Zurück zu 1968?

„Die haben einen genauen Plan im Kopf“, sagt Christoph Raetzsch, der am John-F.-Kennedy-Institut in Berlin promoviert hat und am Institut für Publizistik und Kommunikationswissenschaften lehrt. Beides waren früher Zentren des politischen Aufruhrs. Heute fragen auch dort die Studierenden, welche Aufwand sie wofür betreiben müssen. Da ist es sicher nicht ganz einfach, so etwas wie politisches Engagement abzuwägen. Es bedeutet aber auch nicht, dass es unmöglich wäre. Raetzsch berichtet, dass seine Politikstudierenden einen eng gesteckten Terminkalender haben. Viele haben ein Auslandspraktikum absolviert und wenn sie mal keins haben, „dann machen sie in den Semesterferien einen Job, um sich Geld zu verdienen“.

Für Sven (21), Germanist an der Uni Düsseldorf, ist es kein Wunder, dass die Studenten so kühle Kalkulierer geworden sind. „Man wird doch dazu gedrängt. Soll sich organisieren und sich um seine eigenen Sachen kümmern“, sagt er. „Das geht schon mit der Grundsatzfrage los: Du musst Abitur machen, sonst stehen dir die Türen nicht offen.“ Als unpolitisch empfindet sich Sven nicht: „Es gibt Zeiten, da habe ich eben mehr mit mir selbst zu tun.“ Er macht sich keine Sorgen, „dass etwa eine Partei wie die AfD die Stimmen der Studenten abräumen könnte. Ich und mein Umfeld wissen genau, was uns wichtig ist – und dafür stehen wir auch ein.“

Die Charakterisierungen, welche Generation gerade en vogue ist, lösen sich immer schneller ab. Auf die Generation X folgt Y und jetzt kommt Z. Eigen ist nach Einschätzung des Soziologen Klaus Hurrelmann allen dreien der „Ego-Taktiker“. Unter dem Einfluss von Web 2.0 und sozialen Medien wurde daraus wohl die Generation Selfie, die es gewohnt ist, Vor- und Nachteile abzuwägen; und sich selbstbewusst dabei ständig selbst präsentiert und porträtiert.

„Gegen Ordinarienuniversität und Bildungsnotstand demonstrierte die Studentenschaft unter der verklärenden Kanzlerschaft Ludwig Erhards“, schrieb Ulrich Sonnemann im Jahr 1968. Der aus dem Exil in den USA zurückgekehrte Philosoph und Psychologe dachte damals in einem Suhrkamp-Bändchen über studentische Opposition nach. Unzählige dieser Texte erschienen in der bunten Reihe, von Peter Szondi, Werner Hofmann, Jürgen Habermas und und und. Wer Texte wie Thesen zur Ausbreitung des Ungehorsams in Deutschland heute wieder liest, ist fasziniert und abgestoßen zugleich. Zurückgeworfen von einer Sprache, die praktisch unlesbar, geschweige denn verständlich ist – außer für eine erlesene Minderheit von geistig Privilegierten. Auch wenn Studierende laut der jüngsten Befragung noch zu den Lesenden gehören. Das Format der kritischen Zeitschrift wird 2013 noch von 74 Prozent akzeptiert, 1998 waren es 85, in den 1980ern sogar 92 Prozent. Aber Texte, welche „die Selbstpräokkupation sich im Kampf glaubender Studenten als eine Wurzel deutscher Fantasielosigkeit“ diskutieren, sie hätten heute keine Chance mehr.

Dennoch fasziniert der Anspruch, nicht nur die Universität, sondern gleich die ganze Gesellschaft mit zu verändern. Das hat es lange nicht mehr gegeben. Vielleicht ist es ohnehin eine Zuschreibung, der Studenten nie gerecht werden konnten, dass nämlich sie qua ihres Status als Lesende und Forschende die Paradeintellektuellen seien – jung, aufmüpfig, mit dem Wort befasst, sozial frei schwebend, sich auf allgemeine Werte beziehend.

Das gab es nicht einmal 1989, als die Studenten auf den Straßen Leipzigs für sehr kurze Zeit mit großer Mehrheit eine gesellschaftliche Alternative forderten. Die Forscher hatten die Studenten damals nach Disziplinen differenziert. Dabei entdeckten sie unter den Reformern eine Gruppe knallharter Wiedervereiniger; diese votierten zu über 90 Prozent für eine Fusion mit dem Westen. Es waren übrigens die Stomatologen. Die Generation Selfie von vor einem Vierteljahrhundert.

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