Mit wem man rechnen muss

Flüchtlinge Ausgrenzung war gestern: Immer mehr Kinder aus Krisenregionen bekommen an Schulen eine Chance zum Lernen
Ausgabe 17/2015

Die Bilder von den kenternden Booten und der Flüchtlingshölle im Mittelmeer zeigen Europas Unfähigkeit und Unwillen zu helfen. In der schulischen Asylpolitik ist das ganz anders. Vor einigen Jahren noch mussten Initiativen Kinder von Flüchtlingen heimlich in deutschen Schulen unterbringen – sonst drohte ihnen die Abschiebung. Mancher Schulleiter half damals, Kinder in den Unterricht zu schmuggeln. Inzwischen sind engagierte Rektoren die treibenden Kräfte einer ebenso kreativen wie systematischen Integrationspolitik. Das ist das Ergebnis einer Umfrage des Freitag unter Initiativen, Lehrern und Schulleitern.

„Wir haben die Verantwortung, auf die Zukunft gut zu achten – das sind die Kinder, ganz egal wo sie herkommen“, sagt Gerhild Brinkmann, Leiterin der Gesamtschule Saarn in Mülheim an der Ruhr. Brinkmann hat an ihrer Schule mehrere Klassen von Seiteneinsteigern eingerichtet, das sind Gruppen von Flüchtlingskindern, die in intensiven Deutschkursen auf die Integration in normale Klassen vorbereitet werden. Ziel ist es, die Kinder möglichst schnell im Deutschen so fit zu machen, dass sie ganz normal mitlernen können.

„Die meisten der Kinder lernen sehr schnell und sehr gut, weil sie die Chance auf ein neues Leben sehen“, sagt Ingrid Macher. Sie ist die Leiterin der Rosenstein-Schule in Stuttgart. Bei ihr sind fast 20 Prozent der 430 Schüler Flüchtlinge. In ganz Deutschland besuchen rund 50.000 Flüchtlingskinder die Schule – ein Plus von 50 Prozent im Vergleich zu 2013.

Die Gesamtschule Saarn in Nordrhein-Westfalen und die baden-württembergische Rosenstein-Schule sind zwei Musterbeispiele dafür, dass in den Schulen weit über Dienst nach Vorschrift hinaus Flüchtlingskinder unterstützt werden. Beide Schulleiterinnen haben spezielle Konzepte aus Separieren und Integrieren entwickelt: Zunächst lernen die Kinder in getrennten Gruppen intensiv Deutsch, gleichzeitig sollen sie schrittweise sozial in die normalen Klassen einfädeln – etwa in Fächern wie Sport oder Musik, in denen Deutschkenntnisse keine so große Rolle spielen Die beiden Leiterinnen holen ehrenamtliche Helfer mit in die Schulen und sie arbeiten mit ihrem besten Personal. „In den Klassen für die Flüchtlinge brauchen wir Lehrkräfte, die für ihren Beruf brennen“, sagt Ingrid Macher.

Das Lernen mit Flüchtlingskindern ist dennoch eine riesige Herausforderung für die Schulen. Es treibt einen Trend auf die Spitze, den das Schulsystem bereits seit einiger Zeit verfolgt, der aber jetzt noch einmal radikal verstärkt wird: Individualisierung. Die Schüler, die plötzlich und schubweise in den Schulen ankommen, sind viel heterogener: „Wir haben in den Vorbereitungsklassen Kinder aus ganz verschiedenen Kulturen und viele von ihnen haben noch nie eine Schule von innen gesehen“, sagt Rektorin Macher aus dem Süden. Die Berliner Lehrerin Ursula Huber drückt es so aus: „Willkommensklassen sind für mich jeden Tag wie eine Wundertüte – man weiß nie, was alles kommt.“ Huber war Dozentin beim Bundesamt für Migration, das heißt, sie bildete Lehrer für „Deutsch als Zweitsprache“ aus. Aber sie wollte direkt in den Unterricht mit den Flüchtlingskindern, den sie nun mit seinen beiden größten Herausforderungen zu bestehen versucht: Erstens Alphabetisierung und zweitens Traumatisierung.

Wehe, die Feuerwehr kommt

„Es sind viele Kinder dabei, die noch nie ein Heft oder einen Stift in der Hand gehalten haben“, sagt Huber, und das beschreibt auch für sie als erfahrene Ausbilderin die Grundfrage bei Flüchtlingskindern: Es geht nicht nur darum Deutsch zu lernen, sondern zugleich alphabetisiert zu werden. Die Kinder lernen schreiben und lesen – in einer Sprache, die sie oft nicht kennen: in Deutsch. Dabei ist die Spannweite riesig: Da sitzen afghanische Kinder, die noch nicht lesen können, neben Schülern aus Syrien, die in französischen Elitegymnasien in Damaskus studiert haben. Diese Heterogenität wird nicht mehr als Grund zur Trennung der Schüler verstanden, die das deutsche Schulsystem lange so penibel vornahm. Das Ziel heißt: Möglichst schnell integrieren. Es sieht so aus, als würde das palästinensische Kind aus der Hölle des syrischen Flüchtlingslagers Jarmuk selbstverständlicher in der Schule aufgenommen als sein Cousin, der bereits seit drei Generationen in Neukölln lebt.

Die neue Offenheit und die Empathie kommen aus der Traumatisierung der Kinder. Alle ahnen, aber keiner weiß genau, was die neuen Schüler, die am sechsten Tag ihrer Ankunft in Deutschland offiziell schulpflichtig sind, alles erlebt haben. Darüber zu reden ist sprachlich und psychologisch kompliziert. „Man merkt den Kindern ihre Traumatisierung nicht immer an“, erzählt Ursula Huber. „Aber wenn draußen drei Feuerwehrwagen mit ohrenbetäubender Sirene vorbeifahren oder wenn die Polizei auftaucht, dann dreht meine Klasse durch. Die Schüler haben große Angst. Sie sind nachhaltig verstört. Man ahnt, dass viele von ihnen Zeugen massiver Gewalt geworden sind.“ Huber schätzt, dass ein Drittel ihrer Schüler traumatisiert ist. Das äußere sich nicht unbedingt im aggressivem Auftreten nach außen, eher in Stille und Zurückgezogenheit – bis die Feuerwehr kommt.

Die Traumatisierung ist das Paradox, mit dem die Schule noch nicht arbeiten kann. Natürlich wissen Lehrer und Rektoren, dass auch Kinder unter den neuen Schülern sind, die grauenhafte Erfahrungen im Sindschar-Gebirge oder in Aleppo gemacht haben. Aber sie wissen noch nicht wirklich damit umzugehen. Die Referentin aus dem Schulministerium in Stuttgart kann 650 Stellen für Deutschlehrer aufzählen, aber sie kann keine konkrete Zahl von Psychologen oder Sozialkräften nennen, die gleichzeitig bereitgestellt werden. Alle reden übers Deutschlernen, keiner davon, wie man seelische Wunden heilen könnte. „Wir schicken die Jugendlichen in ein Klassenzimmer und gehen davon aus, dass die ihre Kriegserlebnisse schon bearbeitet hätten“, sagt die Professorin für Deutsch als Zweitsprache von der Uni Hildesheim, Elke Montanari. „Wir sollten besser wissen, dass das nicht geht – hierzulande brechen noch 70 Jahre nach Kriegsende bei den Menschen psychische Wunden auf.“

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