Operation geglückt, Eltern abgelenkt

Wankelmut Die Kultusminister reden gern über frühkindliche Bildung und schrecken dann doch davor zurück – aus einem fatalen Grund

Annette Schavan macht gerade eine Rundreise durch ihre Partei. Die Bildungsministerin des Bundes tingelt von CDU-Regionalkonferenz zu Regionalkonferenz, um Werbung zu machen. Sie versucht ihrer Basis zu erklären, dass die Hauptschule demnächst keinen Platz mehr im Programm der CDU hat. Man reibt sich die Augen: Die Hauptschule muss weg! Ist das nicht eine Parole, die man vor langer Zeit schon einmal gehört hat?

Richtig, als die erste Pisastudie – der internationale Schulleistungsvergleich der OECD – veröffentlicht wurde, gab es diverse Forscher und Praktiker, die das Ende der Hauptschule forderten. Denn dort werde der doofe Rest des Schulsystems versammelt. Eine traurige Zusammenrottung der Beladenen und Bildungsverlierer, der Kinder von Hartz-IV-Empfängern und Zuwanderern, die sich gegenseitig missmutig machen. Unter Pisaforschern kursierte das böse Wort der „Marienthal-Schulen“: eine Anspielung auf die Bewohner von Marienthal, einer Arbeiter-Siedlung nahe Wien, in der Soziologen 1933 eine hohe Konzentration von Resignierten, Verzweifelten und verwahrlost Apathischen entdeckt hatten.

Es gibt einen Grund, dass die CDU erst so lange nach dem Pisa-Schock die Hauptschule abschaffen will. Sie hatte angeblich Wichtigeres zu tun.

Es ist ziemlich genau zehn Jahre her, dass Pisa die Deutschen jäh aus ihren Träumen riss. Die OECD stürmte – bildlich gesprochen – am 5. Dezember 2001 in aller Frühe ins Schlafzimmer der Deutschen und rüttelte sie wach: „Aufwachen! Jedes vierte Kind kann gar nicht lesen! Die ärmeren und die zugewanderten Schüler können praktisch nichts. Mensch, Deutschland. Du bist so ungerecht!“

Die Kultusminister rauften sich damals zu sieben Maßnahmen zusammen. Die ersten beiden richteten sich auf die Kindergärten: Die Sprachförderung verbessern, hieß Maßnahme Nummer eins. Nummer zwei hieß: die Kitas besser mit den Grundschulen verzahnen. Die gegliederte Struktur von Haupt- und Realschule sowie Gymnasium tauchte darin als Problem nicht auf, dafür sagten die Kultusminister, vor allem die der CDU: Wir machen ja die Kitas besser!

Tabu mit Folgen

Es war zunächst einmal richtig, die Kitas auf die Agenda zu setzen. Denn der „Kindergarten“, wie man in weiten Teilen Deutschlands zu sagen pflegt, war keine Bildungseinrichtung. In Wahrheit waren deutsche Kindergärten noch 2001 meistens Betreuungseinrichtungen, in denen man die Kinder von arbeitenden Frauen deponierte: ein Relikt der 19.-Jahrhundert-Ideologie der heiligen deutschen Familie, in der die Mutter sich um die Kinder kümmert – ein Anachronismus in einer Industrie- und Wissensgesellschaft.

Doch die neue Kitapolitik nach Pisa war freilich nur scheinbar ein Paradigmenwechsel. Genauer betrachtet erwies sie sich als ein rhetorisches Manöver. Bei der Verknüpfung von Kindergarten und Grundschule wurde jedenfalls praktisch nichts erreicht. Maßnahme zwei war also ein Fehlschlag. Und zur Verbesserung der Sprachkompetenz – Maßnahme eins – haben die Länder eigentlich nur Sprachtests eingeführt, aber kaum Sprachförderung betrieben. „Bärenstark“, „Delfin“, „Deutsch plus“ – und wie die Tests alle hießen – wiederholten Pisa praktisch nur. Ihr Tenor: 20 bis 40 Prozent der Vorschulkinder haben keine bis verheerende Sprachkenntnisse – deutsche und Migrantenkinder übrigens gleichermaßen.

Nur, immer wenn es darum ging, diese Kinder entschieden und glaubwürdig in ihrer Basiskompetenz für die Schule zu fördern – dem Sprechen und Verstehen –, da passten die Bundesländer das Nötige stets der Haushaltslage an. Den krassesten Ausdruck fand diese Nicht-Politik beim damaligen hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch (CDU), der sagte: Ein Zuwandererkind darf erst dann eingeschult werden, wenn es ausreichend Deutsch kann.

Egal, welche konkreten Einzelschritte der Kitapolitik man durchgeht – stets taucht dieses Muster auf. Wenn es um Geld geht, ist die Kita den Ländern dann doch nicht mehr so wichtig. Das gilt für die Fortbildung und Bezahlung von Erzieherinnen ebenso wie für das Ziel, den Beruf zu akademisieren.

Kraft des Faktischen

Der Wankelmut der Politiker hat einen Grund: Kitapolitik war nie ein ernst gemeintes Handlungsfeld. Den Kultusministern diente sie eher dazu, vom Problemfeld Schule abzulenken: Die Minister redeten über Kitas, damit sie nicht über die Schulstruktur sprechen mussten.

Der – wie es oft verschämt heißt – „statistisch besonders enge Zusammenhang von sozialer Herkunft und Kompetenz-Erwerb in Deutschland“ hat nämlich eine wichtige Ursache in der Schulstruktur. Es schadet besonders den schlecht Deutsch sprechenden Kindern, dass man bereits nach vier Jahren ihre Schullaufbahn unterbricht – und sie dann in Schulformen wie der Haupt- oder der Sonderschule konzentriert. Dazu gibt es ebenso eindrucksvolle wie beschämende Studien des „Pisa-Papstes“ Jürgen Baumert, Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung. Dennoch erklärten die Kultusminister nach dem schrecklichen Pisa-Erwachen im Jahr 2001 die Schulstruktur zum Tabu.

Inzwischen haben alle Bundesländer damit begonnen, ihre Schulstruktur zu verändern. Die Hauptschule wird – abgesehen von Hessen und Bayern – abgeschafft. Sie wird mit der Realschule fusioniert. Oder sie geht in so genannte Gemeinschaftschulen über, die eine Art Gesamtschule sind. Wie kann das sein, wo die Schulstruktur seitens der Konferenz der Kultusminister doch immer noch ein Tabu ist?

Es ist die Wirklichkeit, die diesmal ins Schlafzimmer der Deutschen eingebrochen ist. Was die OECD nicht schaffte, hat die Demografie fertiggebracht. Es gibt inzwischen so wenige Schüler in Deutschland, dass man keine drei Schulformen mehr aufrechterhalten kann. Vor allem in den großen Flächenländern führt das zu einem dramatischen Schulsterben – das logischerweise zu allererst die ungeliebten Hauptschulen betraf. Bevor die Hauptschulen aber sterben, schafft man sie lieber ab. Das hat auch die CDU begriffen, die die Hauptschule im November auf ihrem Parteitag offiziell aus dem Programm streichen will. Ein überfälliger Schritt.

Nun lautet die Frage: Wann zwingt die Wirklichkeit auch in den Kitas zu nachhaltigen Reformen? Wenn schlecht bezahlte Erzieherinnen den Kindergärten davonlaufen? Hoffentlich dauert es nicht wieder zehn Jahre, bis die Politik begreift.

Christian Füller schrieb im Freitag zuletzt eine ausführliche Analyse, wie der demografische Wandel das Schulsystem infrage stellt

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