Schmerz oder Kommerz?

Zuwanderung Um das erste Migrationsmuseum ist ein Kampf entbrannt – der mit harten Bandagen geführt wird
Ausgabe 49/2016

Yüksel Özkasap hat mehrere Goldene Schallplatten in Deutschland verkauft. Trotzdem kennt kaum einer die „Köln’ün Bülbülü“, die Nachtigall von Köln. Özkaskap arbeitete in den 1960ern zunächst bei Ford am Fließband. Dort sang sie für ihre Gastarbeiterkollegen über die verlorene Heimat, die Türkei. Dann entdeckte sie ein Musikmanager und machte sie zum Star.

Wie kann es sein, dass jemand in Deutschland Hunderttausende Platten verkauft, aber in Deutschland gleichzeitig unbekannt ist? Das kommt auf die Perspektive an. Bei „uns“, der Mehrheitsgesellschaft, ist Yüksel Özkasap eine Leerstelle; für „die anderen“, die türkische Community, bedeutet sie Identität: eine Türkin, die berühmt wird, weil sie sich mit der Situation der Gastarbeiter auseinandersetzt.

Dass diese Identität immer noch geteilt ist, hat damit zu tun, dass die Lebensgeschichten der Zuwanderer bisher nicht Teil einer musealen und volkspädagogischen Präsentation sind. Es gibt kein eigenständiges Museum, das die Geschichte des Einwanderungslandes erzählt. Über Nacht ist nun alles anders geworden. Auf einmal herrscht ein Wettlauf um das erste Migrationsmuseum. Ein Wettlauf, bei dem es nicht zimperlich zugeht.

Klorollenhäkelhüllen

Wer das Rennen um das Migrationsmuseum verstehen will, muss zunächst nach Köln fahren, in die Venloer Straße im Stadtteil Ehrenfeld. Dort hat die Initiative „Domid“ eine – provisorische – Bleibe gefunden. Das „Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland“ wirbt seit 25 Jahren dafür, Kultur und Geschichte der Migranten zu bewahren. Was dabei zusammengekommen ist, sprengt die Vorstellung. Hinter jedem der 100.000 Stücke, von der Klorollenhäkelhülle über den Schutzhelm eines türkischen Stahlbauers bis zu den Singles der Nachtigall von Köln, steckt eine Geschichte. Oft eine leidvolle.

Es gibt auch den Jungen, der sich schmerzerfüllt abwendet, während ein Beschneider ihm die Vorhaut abtrennt. Oder die der ersten türkischer Arbeiter, die in Streik traten, 1973 bei Ford in Köln. Beides Fanale türkischer Immigration, festgehalten in großformatigen Schwarzweißbildern. Domid hat seinen Begriff von Immigration längst erweitert. Jede Form von Zuwanderung wird hier dokumentiert. Im Depot stehen zum Beispiel zwei große Holzkisten einer Familie, die aus dem tschechischen Kraslice vertrieben wurde. Oder der karge Rest eines Backsteins aus Siebenbürgen – letzte Erinnerung an ein Haus. Die Stücke wirken oft winzig und bedeutungslos. In Wahrheit sind sie Puzzlesteine einer Gesellschaft, die sich vieler Wurzeln erst bewusst werden muss.

Gegründet wurde Domid als Domit mit einem t am Ende, ein Dokumentationszentrum für türkische Migration. Aytaç Eryılmaz, ein politischer Flüchtling aus der Türkei, wollte nicht mehr zwischen den Kulturen hin- und hergerissen sein. Also entschied er sich für Deutschland und begann Zeugnisse der Migrationsgeschichte zu sammeln. Seitdem ist Domid mit Ausstellungen auf Wanderschaft. 1998 etwa mit „Fremde Heimat“ im Ruhrlandmuseum in Essen. „Erstmals widmet sich ein deutsches Museum detailliert der Geschichte der türkischen ‚Gastarbeiter‘“, schrieb die Hannoversche Allgemeine Zeitung damals. Im „Projekt Migration“ wurde 2005 versucht, Zuwanderung nicht nur sozialhistorisch zu begreifen, sondern sie mit Kunst zu verbinden. 2011 gastierte Domid im Deutschen Historischen Museum in Berlin. „Dort auszustellen war schön und bezeichnend zugleich“, sagt Projektleiter Robert Fuchs. „Migration taucht in der musealen Erzählung der Geschichte Deutschlands allenfalls zeitweise oder am Rande auf. Damals wurde deutlich: Die Geschichte der Migration braucht ein eigenes Haus.“

Inzwischen existiert wenigstens ein Plan. Eine 130-seitige Machbarkeitsstudie beschreibt mehrere Varianten eines „zentralen Migrationsmuseums“. Das utopische Highlight wäre eine Brücke über den Rhein, in der das Domid sein Zuhause finden köännte. Der Brückenschlag zwischen den Kulturen als Architektur und Institution. Rund 40 Millionen Euro sollen Bau und Betrieb kosten. Beim Bürgerfest des Bundespräsidenten im Herbst zeigte Domid der Öffentlichkeit erstmals seine Pläne. Alles schien auf gutem Wege.

Anfang November dann die jähe Wendung. Da prasselte ein Regen von Pressemitteilungen auf die Zeitungsfeuilletons herab. Gefeiert wurde ein „nationales Migrationsmuseum“ – in Bremerhaven. Dort steht das „Deutsche Auswandererhaus“ (DAH), ein Erlebnismuseum, das seit 2005 die Geschichte von 7,2 Millionen Deutschen erzählt, die von Bremerhaven aus auswanderten. 2012 stellte das Auswandererhaus einen kleinen Anbau hinzu, in dem es Migration zum Thema machte. In einem Friseursalon, einer Eisdiele, einem Fotogeschäft, einem Kino werden die Biografien von 15 Einwanderern erzählt. Es sind fast ausnahmslos Erfolgsgeschichten, biografische Miniaturen, die in merkwürdigem Kontrast zum Stolzen und Riesenhaften der Auswanderung im Haupthaus stehen. Gar der Grand Central Terminal New Yorks wurde hier teilweise nachgebaut.

Bremerhaven ist eine Hochglanzschaustelle, die schöne Geschichten über Migranten erzählt, hübsch verpackt für Touristen im äußersten Norden der Republik. In Köln hingegen schreiben die Migranten selbst an ihrer komplizierten Geschichte in Deutschland, und sie wollen sie ganz bewusst in einer der Metropolen der Zuwanderung erzählen – als streitbares wie identitätsstiftendes Mahnmal.

Dennoch hat das private Auswandererhaus, die „Paysage House 1 GmbH“, nun einen Coup gelandet. Am 11. November beschloss der Haushaltsausschuss des Bundestages in einer Nachtsitzung, das Auswandererhaus mit sechs Millionen Euro zu einem Migrationsmuseum auszubauen. Wer herausfinden will, wie das kam, muss eine weite Reise unternehmen und sehr hartnäckig sein. Denn der Plan für das erste deutsche Migrationsmuseum war bis vor kurzem ein Phantom.

Normalerweise möchte man meinen, dass der wichtigste Parlamentsausschuss sechs Millionen nicht freihändig vergibt. Im Falle des aufgewerteten Auswandererhauses mutet es gleichwohl so an. Ein schriftliches Konzept, das den Abgeordneten bei ihrer Millionenentscheidung half, gibt es. Aber es wird lange nicht herausgerückt. „Der Abgeordnete Johannes Kahrs will das nicht“, teilt ein Mitarbeiter des SPD-Mannes mit. Auch Uwe Beckmeyer (SPD), Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, zitiert das Papier, weil es eine so hervorragende Grundlage für ein Migrationsmuseum sei. Und auch er gibt es nicht heraus. „Ich bin gar nicht dazu befugt“, sagt der Mann, der für Bremen im Bundestag sitzt. Selbst das Bremerhavener Museum kann oder will tagelang die Grundlage nicht vorweisen, die zur Bewilligung der Bundesmillionen führte. „Die konzeptionellen Überlegungen und inhaltlichen Zielsetzungen“ werden im Jahr 2017 bekannt gegeben, teilt das DAH mit. Migration als Geheimsache.

Sparsame Erläuterung

Museumsdirektorin Simone Eick versendet nach Tagen ein Papier mit dem Titel „Auf dem Weg zu einem nationalen Migrationsmuseum“. Mündlich ergänzt sie, das Konzept müsse erst im Detail ausgearbeitet werden. So sparsam die Erläuterungen über Bremerhaven sind, so detailliert weiß die Direktorin über Köln Bescheid. Die Leute von Domid „haben bei uns getagt“, erzählt sie. „Die haben das Museum rauf- und runterfotografiert“. Der Vorteil Bremerhavens? „Dass wir bereits eine Ausstellung haben – im Gegensatz zu anderen Initiativen.“

Die Kölner Sammler irritiert das. „Es kann gar nicht genug Ausstellungen und Auseinandersetzungen zum Thema Migration in Museen geben“, sagt Jörg Krauthäuser, ein erfahrener Museumsgestalter, der für Domid den Entwurf eines Museums in der Brücke konzipierte. „Aber dass sich ein Auswandererhaus über Nacht in ein ‚nationales Migrationsmuseum‘ verwandeln will, das verwundert.“

Im Zank um das richtige Migrationsmuseum treffen zwei unterschiedliche Vorgehensweisen aufeinander. Die Kölner als basisdemokratischer Haufen, der darum ringt, endlich einen würdigen Platz für seine Exponate zu finden. Domid hat sein Konzept einem nordrhein-westfälischen Ministerium übergeben, wo es seit Monaten einer Begutachtung harrt. Gleichzeitig wurde es auch in den Bundestag eingespeist, mehr oder weniger zufällig landeten die 130 Seiten bei Johannes Kahrs, einem einflussreichen Strippenzieher im Bundestag. Kahrs befand die Kölner Idee wohl als gut – aber in den Haushaltsausschuss wurde das Konzept aus Bremerhaven eingebracht. Prompt stellte das Gremium sechs Millionen Euro bereit und verschaffte Bremerhaven damit einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil. Denn das Auswandererhaus steht nun als Migrationsmuseum im Etat. Bis Domid in Köln so weit ist, wird viel Wasser den Rhein hinuntergeflossen sein. Erst muss eine neue Regierung in NRW, dann eine im Bund gewählt werden. Sollte der Titel „Domid“ im Haushalt je auftauchen, dürfte die Erweiterung in Bremerhaven längst stehen. Im Norden macht man denn auch keinen Hehl daraus, wie dämlich die Kölner sind. „Wie kann man glauben, wenige Wochen vor der entscheidenden Sitzung 40 Millionen im Haushaltsausschuss zu bekommen!“, fragt der Bremer Beckmeyer rhetorisch.

Im Kern ist der Streit ums erste Migrationsmuseum eine Stilfrage. Sollte die Zuwendung öffentlicher Mittel Ergebnis eines Prozesses sein, bei dem mithilfe von zwei einflussreichen Abgeordneten quasi klandestin Geld bereitgestellt wird? Oder sollte er eine res publica sein, eine öffentliche Angelegenheit? Und wozu sind kulturpolitische Zuschüsse eigentlich da? Dazu, ein gut gemachtes, aber teures Migrationsdisneyland mit neuen Inhalten zu versehen, die dann für 13,80 Euro Eintritt plus Aufschläge für Fotografieren und Kopieren als Pläsir vermarktet werden – zugunsten einer privaten Firma? Oder sollte Kulturförderung helfen, die beschwiegene und so lange verdrängte Geschichte des Einwanderungslandes ans Licht zu heben – für alle?

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