Es ist nur ein Papier von schüchternen 17 Seiten. Erstellt von zwei Autoren eines linken, gewerkschaftsnahen Forschungsinstituts. Und doch hat der Report das Zeug dazu, eine sozialpolitische Bilanz der letzten 20 Jahre Bundesrepublik zu ziehen. Wenn man so will, auch ein erstes gesamtdeutsches Fazit.
Das Ergebnis der hart empirisch fundierten Zahlen ist durchaus zwiespältig: Der Sozialstaat hat die Wiedervereinigung und auch die Hartz-IV-Gesetze ganz gut überstanden, er stärkt und pampert Die Mitte der Gesellschaft. Einerseits. Andererseits ist es interessant zu sehen, dass die Mittelschicht auch mit wohlfahrtsstaatlicher Absicherung und trotz eines Jahrzehnts der Prosperität Einschnitte hinnehmen muss: die Mitte lebt, sie ist die Majorität – was aber geschieht, wenn es mal nicht bergauf geht?
Der deutsche Sozialstaat ist stark. Er hat geradezu herkulische Kräfte. Das ist die erste und vielleicht auch die wichtigste Botschaft, die Gerhard Bosch, der Direktor des „Institut Arbeit und Qualifikation“, und sein Mitarbeiter Thorsten Kalina aussenden. Was gab es in der Schröder-Ära und danach nicht alles für Wehklagen: Die Steuerpolitik von Rot-Grün und der Umbau der Arbeitslosen- und Sozialversicherung, sie führe zu einem Kahlschlag des Sozialstaats. Der Brioni-Kanzler nehme neoliberale Zerstörung des deutschen Konsensmodells in Kauf. Der Mann mit der Zigarre bereite den Übergang in ein anglo-amerikanisches Zeitalter der Konkurrenz und des Rechts des Stärkeren vor. Illustriert wurden solche teils apokalyptischen Mahnungen mit dem berühmten Schröder/Blair-Papier, in dem die beiden Regierungschefs eine neue marktorientierte Sozialdemokratie entwarfen. Das war im Jahr 2002.
Der Wohlstandsbauch
Vergleicht man jetzt, gut zehn Jahre später, die Einkommen und die Bewegungen der Mittelschicht, dann ist die These von der Zerstörung des deutschen Wohlfahrtsstaates schlicht nicht haltbar. In Zahlen: 48 Prozent der deutschen Haushalte zählten im Jahr 2013 zur Mittelschicht, wenn man sich allein auf das verfügbare Einkommen kapriziert. Das ist also die Kennziffer vor der staatlichen Umverteilung, fast die Hälfte gehört von ihrem Einkommen her zur Mitte. Interessant ist nun: Wie hoch ist der Anteil, wenn das ganze Bündel an Abzügen und Stützungen, also Steuern und sozialstaatliche Maßnahmen, gegriffen hat? Dann sind es 78 Prozent der Haushalte, die statistisch zur Mittelschicht zu zählen sind. Diese Zahl sendet ein starkes Signal aus. Es bedeutet, dass die Mitte der Gesellschaft durch wohlfahrtsstaatliche Eingriffe erheblich gestärkt wird – finanziell und von ihrem Umfang her. Nach den Interventionen ist sie um zwei Drittel größer als vorher.
Solche Zahlen allein können selbstverständlich nicht die kritische Literatur seit Blair und Schröder über die Metamorphosen des Sozialstaats falsifizieren. Dennoch stehen sie auf einem starken Fundament. Haben die Forscher doch die Daten des sogenannten sozio-ökonomischen Panels benutzt – die valideste Faktenbasis, die zu haben ist, wenn man über die finanzielle Kraft der Haushalte urteilen will. Freilich ist eine genaue Analyse allein aufgrund des Vorher-Nachher-Vergleichs des Wohlstandsbauches der Gesellschaft nicht zu treffen. Das Bild wäre zu statisch. Man muss es in zeitliche Perspektive setzen, und in der Tat fällt das Urteil dann differenzierter aus: Denn die Mitte schrumpft.
Vergleicht man nämlich die Einkommens-Mitte des Jahres 1992 mit der 20 Jahre später, so ist ein deutlicher Verlust zu verspüren. Damals waren es über 56 Prozent der Gesellschaft, deren Einkommen sich zwischen den Sphären arm und reich befand. Heute sind es nur noch 48 Prozent – also deutlich weniger als damals. Beide Werte beziehen sich erneut auf das Einkommen ohne staatliche Interventionen. Die Mitte dünnt aus, wenn man den Sozialstaat und seine Mechanismen für einen Moment außer Acht lässt. Und hier beginnt der Teil der Bilanz des Duisburg-Essener Instituts, der aufhorchen lässt. Denn die ausgleichende Kraft der Besteuerung und der Sozialtransfers, sie wirkt zwar nach wie vor. Aber sie hat gleichwohl nachgelassen. Im Jahr 2002, als Schröders Agenda 2010 begann, gehörten 83 Prozent zum sozialpolitisch nivellierten Mittelstand. Heute sind es 78 Prozent.
Dem normalen Leser schwirrt bei solcher Arithmetik der Kopf. Ist es nicht egal, ob nun 83 Prozent der sozialstaatlichen Mitte angehören oder 78 Prozent? Nein, ist es nicht, wenn man sich die jüngere Wirtschaftsgeschichte betrachtet. Aus dem kranken Mann Europas, so die Apostrophierung, als die Ära Kohl mit der wirtschaftlichen Sklerose des deutschen Modells zu eEnde ging, ist der unumstrittene wirtschaftliche Leitwolf Europas geworden. Die vielleicht bemerkenswerteste Zahl ist die der Erwerbstätigkeit. In den 90ern gehörte es zum Credo der Ökonomen, zu sagen, die Zeit der dauerhaft sozialversicherungspflichtig Beschäftigten gehe ihrem historischen Ende zu. Auch das hat sich als Irrtum erwiesen – die Zahl der Erwerbstätigen stieg seit dem Ende der Kohl-Ära um fünf Millionen auf zuletzt 46 Millionen Arbeitnehmer.
Aber genau diese Topwerte, die sich dem Trend der wirtschaftlichen und strukturellen Entwicklung entgegenstellen, sie sorgen dafür, dass der Blick auf den Sozialstaat am Ende doch kritisch ausfällt. Warum? „Wenn der Sozialstaat schon in guten Zeiten so stark vom Ausgleich ungleicher Markteinkommen beansprucht wird, besteht die Gefahr, dass er in Krisenzeiten überfordert ist“, schreiben die Autoren. In der Tat führt erst eine solche eingebettete Betrachtung zu einem kritischen und scharfen Blick: Dem Sozialstaat gelingt es nämlich in Zeiten wirtschaftlicher Prosperität gerade mal so, die Mitte halbwegs stabil zu halten. Es fällt ihm also schwer, obwohl so viele in seine Sozialkassen einbezahlen wie nie zuvor. Da drängt sich in der Tat die Frage auf: Was passiert eigentlich, wenn das Land mal in eine dauerhafte Rezession rutscht?
Aus der Perspektive Großbritanniens sind das luxuriöse Probleme, erst recht wenn man sich die Ökonomien der anderen kranken Männer Europas ansieht, also Spanien, Frankreich und Italien, gar nicht zu reden von Griechenland. Volkswirtschaften hängen von viel mehr Faktoren ab: Wie geht es der Weltwirtschaft? Was macht die Lokomotive China? Wie geht es mit den Rohstoffmärkten und den Geldpolitiken weiter? Kaum ein Ökonom überschaut diese Zusammenhänge. Interessanterweise aber scheint die deutsche Mittelschicht so etwas wie einen siebten Sinn für lange Entwicklungen zu haben: Die Mittelschicht fühlt sich „beängstigend gut“, wie der Soziologe Heinz Bude es ausdrückt.
Die Grundnervosität
Obwohl es den Leistungsträgern der stärksten Wirtschaft Europas gut geht, haben sie „das Zukunftsvertrauen, dass sich die Dinge schon wieder richten werden, verloren“. Die Mittelschicht ist ein hochkomplexes Konglomerat, das sich nicht nur durch Einkommen, sondern auch in Bildungsaspirationen und Haltungen unterscheidet. Es sind zwar feine Unterschiede, aber es sind eben Unterschiede. Teile dieser Mittelschicht merken, dass es schwieriger wird, dabeizubleiben. Sie wissen, dass Arbeitslosigkeit auch sehr gute Kräfte gefährden kann. Die Branchen sind eben schnelllebig. Vielleicht erklärt diese Grundnervosität auch manche aggressive Abwehr- und Ausgrenzungshaltung, die am unteren Ende der Mittelschicht praktiziert wird.
Die Agenda 2010 und die Hartz-Gesetze wurden stets als Angriff auf die unteren Zehntausend verstanden. Aus dieser Annahme ist sogar eine harte politische Konkurrenz für die SPD entstanden, die „Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit“, die sich später mit der PDS zur Linken vereinigte. Die Einblicke in die soziale Wirklichkeit von Bosch und Kalina zeigen freilich, dass Gerhard Schröder eine für die neue Mitte durch und durch paradoxe Sozialpolitik betrieben hat. Zu Beginn seiner Ära setzte er auf sie, die Schicht der technisch begabten, akademischen und digitalen Intelligenz. Später lieferte er diese von Zeitverträgen und Arbeitsbiografiebrüchen bedrohte Gruppe den Hartz-Gesetzen mit ihren härteren Regeln aus. Dass Schröder die Unterschicht bekämpft hätte, aus der er selber kam, ist indes ein Märchen.
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