Zum Beispiel Gerhard Schick. Er ist einer der klügsten Köpfe im Bundestag. Er hat ein intelligentes Buch über „Machtwirtschaft“ geschrieben, er kann gute Reden halten, und er sieht auch nicht aus wie einer der neogelackten Grünen mit Schlips und Kragen. Leicht rote Färbung im Haar, tritt der MdB Schick ans Rednerpult. Wir sind beim kleinen Parteitag der Grünen, die Partei ist in Baden-Württemberg gerade erstmals stärkste politische Kraft bei einer Landtagswahl geworden. Alle erwarten nun von Schick Analyse, Ausblick und Attacke.
Aber es kommt anders. Schick hält eine komplizierte Rede, in der es viel um Rücksichten geht. Er beschwört Winfried Kretschmann und die anderen regierenden Landesgrünen geradezu, die Grünen im Bundestag zu schonen. „Wenn die einen in Regierungsverantwortung Kompromisse machen und die anderen in der Oppositionsverantwortung im Bund auch mal Klareres sagen müssen, dann muss das zusammenpassen.“ Die Grünen dürften nicht nur „nach dem nächsten Dienstwagen Ausschau halten“.
Menetekel Gerhard Schröder
Was MdB Schick anbietet, ist keine Vision für eine Partei, die in zehn Landesregierungen mitgestaltet. Die Botschaft lautet kurz gesagt: Regiert ihr grünen Brüder und Schwestern in den Ländern – wir im Bund müssen weiter standhaft Opposition machen. Und gegen die böse AfD kämpfen.
Besser als mit dem begabten Finanzpolitiker kann man die Ohnmacht der Opposition im Bundestag aber kaum illustrieren. Die Zeit ist voller linker und grüner Themen. Europas Architektur wird vor aller Augen als unfair und undemokratisch enttarnt – und die Menschen wissen das. Ein Armutsbericht nach dem anderen skandalisiert die Ungleichheit – und die Menschen spüren das im Alltag. Die Flüchtlinge setzen urgrüne Themen wie Integration auf die Tagesordnung – und die Menschen wollen wissen, wie das zu schaffen ist. Aber ausgerechnet die Opposition profitiert nicht vom Boom ihrer politischen Inhalte.
Viele Grüne wollen lieber nicht regieren. Sich auf keinen Fall wie bei Rot-Grün für Machtpolitik verhaften lassen. Gerhard Schröder heißt das Menetekel. Wenn Schick in seinem Buch über Rot-Grün schreibt, dann über „die Regierung Schröder“. Als hätten die Grünen nie dazugehört.
Bei den Linken ist die Frage noch heikler. In einem Berliner Café unweit des Regierungsviertels sitzt ein Bundestagsabgeordneter. Er ist bereit, über die aktuelle Situation in der Partei zu sprechen, aber sein Name soll lieber nicht in der Zeitung erscheinen. Die Linke wurde gerade bei drei Landtagswahlen vom Wähler abgewatscht. Der Volksvertreter ist lässig gekleidet, makellos braun – und fröhlich.
Ist es nicht Zeit, zu Europa was zu sagen?
„Also“, sagt das Mitglied des Bundestages, „dazu kann ich nichts sagen. Sonst gibt es gleich wieder Stress.“ Weil man sich bei Europa nicht einig ist bei der Linken, fällt das Thema aus. Zurück bleibt ein Vakuum.
Wie könnte man die Wählerflucht zur AfD stoppen?
„Ach, wissen Sie“, gibt der Abgeordnete zurück, „ich bin jetzt 25 Jahre dabei. Da habe ich manches Auf und Ab erlebt. Das wird wieder.“
Problem Ideenklau: Oppositionsprojekte, die die Regierung kaperte
Pflegezeit und Pflege-TÜV
Die Grünen hatten 2007 gefordert, pflegende Angehörige für bis zu drei Monate freizustellen und sie durch eine steuerfinanzierte Ersatzleistung abzusichern. Der Vorschlag wurde 2008 von der Regierung aufgenommen, ausgedehnt auf sechs Monate, aber ohne Ausgleich und nur in Betrieben mit mehr als 15 Beschäftigten. Beim Pflege-TÜV forderten die Grünen 2013, Bewertungen von Pflegeeinrichtungen auszusetzen und ein neues Instrument zu schaffen. Karl-Josef Laumann, CDU-Staatssekretär im Gesundheitsministerium, übernahm Teile des Konzepts. Ulrike Baureithel
Mindestlohn
Für die SPD ist es eines der Vorzeigeprojekte in der Großen Koalition: der gesetzliche Mindestlohn. Erfunden hat die SPD ihn aber nicht. Die Linkspartei hat schon 2005 in ihrem Wahlprogramm einen gefordert („nicht weniger als 1.400 Euro brutto“). Die SPD setzte damals dagegen noch auf Tarifverträge, die zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften ausgehandelt werden. Nur wenn so keine Mindestlöhne zustande kämen, solle die Politik Vorgaben machen. Heute sind 8,50 Euro per Gesetz vorgeschrieben, die Linke fordert aber 10 Euro. Felix Werdermann
Frauenquote in der Wirtschaft
Selbstverpflichtung war ein beliebtes Wort, wenn es um die Frauenquote ging. Zuerst scheiterte Christine Bergmann (SPD) 2000 mit einer Regelung, dann die Grünen 2010 mit einer 40-Prozent-Quote. 2011 miss lang ein weiterer Versuch. Dann kaperte Ursula von der Leyen (CDU) das Thema. Sie wollte 30 Prozent aller Spitzenpositionen von Frauen besetzt sehen. Nach vier Jahren rang sich die Große Koalition durch, zumindest 30 Prozent der Aufsichtsräte in börsennotierten Unternehmen mit Frauen zu besetzen. „Kein wirklich großer Wurf“, kommentierte die frauenpolitische Sprecherin der Grünen, Ulle Schauws. Ulrike Baureithel
Bankkonto für alle
Für die meisten Deutschen ist es unvorstellbar, aber einige Wohnungslose und Hartz-IV-Empfänger mussten bislang ohne eigenes Bankkonto auskommen. In diesem Jahr hat der Bundestag nun das Recht auf ein Konto beschlossen – die Linkspartei hat jahrelang dafür gekämpft. Für die Bundesregierung dürfte aber eher eine EU-Richtlinie ausschlaggebend gewesen sein. Die Linkspartei beansprucht für sich, die EU-Kommission davon überzeugt zu haben. Mit dem Ergebnis hierzulande ist sie aber unzufrieden: Das Basiskonto kostet nämlich Geld.
Felix Werdermann
Zwei Autobahnstunden entfernt sitzt André Brie, der Vor- und Nachdenker der Linken, in seinem idyllisch gelegenen Haus in Mecklenburg. Der Mann hat mit Gregor Gysi, Lothar Bisky und anderen dafür gesorgt, dass es die Linke als Partei überhaupt ins vereinte Deutschland geschafft hat. Und dass ihr der Sprung in den Bundestag glückte. Im Teich vor seinem Haus quaken Frösche. Es gäbe hier genug Anlass, lässig in die Sonne zu blinzeln. Aber Brie sagt: „Ich bin verzweifelt. Wir verlieren gerade einen Teil Wähler an die AfD, die zu uns gehören. Wir müssen alles anders machen.“
Von derlei Energie, die Verhältnisse nicht nur zu skandalisieren, sondern sie zu verändern, ist auf den Oppositionsbänken des Bundestages wenig zu spüren. Dabei wird beiden Fraktionen, den Grünen wie den Oppositionsführern von der Linken, gute Arbeit bestätigt – was die Organisation anlangt. Bei den Linken sagen Beobachter aus den Ländern anerkennend, Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch würden „binnenstrukturell“ gut funktionieren. Die Doppelspitze habe dazu geführt, dass die Flügel der Linken-Fraktion besser eingebunden sind. Dass sie also nicht mehr wie unvertäute Kanonen über Deck poltern.
Auch innerhalb der Fraktion kommt das Duett gut an. „Ich war ganz angetan, wie gut der Dietmar das hinbekommen hat“, schwärmt eine Abgeordnete über die Rede des Fraktionsvorsitzenden nach den Anschlägen in Paris. Andere sehen das pragmatischer. „Der Dietmar hält halt den Laden zusammen“, meint ein Abgeordneter knapp. Sprich, er hält sich zurück mit eigenen Akzenten, weil er sonst Wagenknecht zu öffentlichem Widerspruch provozieren könnte. Zunächst soll das Mobile der politischen Strömungen zur Ruhe kommen.
Sahra Wagenknecht selbst scheint auf gutem Weg, breitenwirksame Popularität zu entwickeln, die sie als kompetente Fachfrau für Wirtschaft und Soziales wirken lässt. Sie ist die Queen der Talkshows und hat ein populäres Buch über „Reichtum ohne Gier“ geschrieben. Erstmals erscheint dort, zumindest indirekt, Reichtum als etwas, das auch gute Seiten haben könnte.
Auch bei den Grünen fällt das Urteil über die Organisation der Fraktionsarbeit gut aus. Die beiden Fraktionschefs Katrin Göring-Eckardt und Anton Hofreiter führen die Fraktion demokratischer als ihre Vorgänger Renate Künast und Jürgen Trittin. Der Vergleich zu einer Reformschulklasse drängt sich auf. Der Laissez-faire-Stil eines langhaarigen Lehrers und einer freundlichen Pfarrersfrau setzt Kreativität frei und erzeugt Selbstverantwortung.
Gleichwohl gilt die Außenwirkung beider Fraktionen, freundlich gesagt, als ausbaufähig. Das machen Dritte sichtbar – die Vorgänger. Gregor Gysi hat kürzlich einen Brief geschrieben, in dem er daran erinnerte, dass es ihn, den großen Redner, noch gibt. Gysi verlangte prominente Zeiten am Rednerpult des Bundestags – nämlich dann, wenn Angela Merkel gesprochen hat.
Bei den Grünen übernimmt diesen Part Jürgen Trittin. Von vielen Medien immer noch als Grandseigneur der Fraktion gesehen, hat sich Trittin gar nicht erst die Mühe gemacht, seine Interventionen durch einen Brief anzukündigen. Er grätscht rein, wann es ihm passt. Manche in der Fraktion sehen ihn inzwischen „als tragische Figur“. Beim kleinen Parteitag führte er vor, was das bedeutet. Er setzte sich demonstrativ in die hinterste Reihe und kommentierte munter, was er von den Reden hielt – wenig.
Gesammeltes Schweigen
Die fortwährende Präsenz von Gysi und Trittin ist aber nur deswegen möglich, weil beide in ein Vakuum stoßen. Bei Gysi ist es der Waffenstillstand zwischen Bartsch und Wagenknecht, der den Raum frei macht. Bei Göring-Eckardt und Hofreiter ist es die Tatsache, dass sie – um im Sprachgebrauch der Pädagogik zu bleiben – als Underachiever gelten. Underachiever, das sind hochbegabte Kinder, deren Kompetenz nicht erkannt wird, die daher beginnen, sich zu langweilen, den Faden verlieren und dann ihre Leistung nicht bringen.
Aber es geht nicht allein um Personen. Auch bei Inhalten hinterlässt die Opposition den Eindruck von Irrung und Wirrung.
Beispiel Flucht und Migration: Seit ihrer Gründung stehen die Grünen wie keine andere Partei für die multikulturelle Gesellschaft. Die Flucht vor den verheerenden Kriegen in Syrien, Afghanistan und dem Irak hat das Thema nun ganz oben auf die Agenda gesetzt. Aber das erste Integrationsgesetz oder Regeln zur Einwanderung kamen nicht etwa von den Grünen, sondern von der Regierung. Warum, so fragen nicht wenige, hat die Fraktion kein eigenes Einwanderungsgesetz vorgelegt?
Bei der Linken wiederum scherte ausgerechnet Chefin Sahra Wagenknecht aus der Linie der Willkommenskultur aus – und ließ wenige Tage vor den Landtagswahlen Sprüche gegen Flüchtlinge vom Stapel. Dafür wurde sie von der Parteispitze zurechtgewiesen. Ergebnis: Aus der Perspektive des Wählers war das Thema Flucht ein Fiasko der Opposition. Erst rannten alle Merkel hinterher, dann einige der AfD – und der grüne Rest war, wie üblich, hochkomplex: Die Grünen produzierten einen eng bedruckten Beschluss fürs Fraktionsarchiv, nicht fürs Plenum des Parlaments.
Beispiel Europa: „Vor Krisen muss man sich nicht fürchten. Sie schaffen Bewegung und bringen Chancen.“ So ein unerschrockenes Statement zu Europa hat man von einem Grünen lange nicht gehört. „Faktisch wird das auf eine Neugründung der Euro-Zone mit vertiefter politischer Integration hinauslaufen“, schreibt der Mutige. Leider bringt das für die amtierende grüne Politikergeneration nichts, denn es war Joschka Fischer, der das formulierte. Und er tat es nicht auf einem Parteitag, sondern schrieb es in der Süddeutschen Zeitung. Die Überschrift klang wie ein Weckruf an seine Partei: „Zeit für Antworten“.
Bei der Linken das gleiche Bild. Weil die Fraktion gelähmt scheint, wollte sich Gregor Gysi das Thema Europa schnappen, als er jüngst seine politische Wiederauferstehung forderte. Gysi weiß, um was es geht. Zerbröselt Europa am erstarkenden Nationalismus, droht schlimmstenfalls ein Rückfall in ein aggressives, kriegsgefährdetes Europa. Gysi wollte verhindern, dass es aus der Linken-Fraktion nur Doktor Bartschs gesammeltes Schweigen dazu gibt. Ohne Erfolg. Fazit: In Europafragen ist die Opposition gerade keine gute Adresse.
Beispiel Ungleichheit: Hier hätte eine linke Opposition ihr stärkstes Handlungsfeld. Denn so stark Deutschland als Europas Motor wirtschaftlich dasteht, so fragil scheint sein soziales Gleichgewicht. Dennoch wirken die beiden Fraktionen auch hier wie paralysiert. Die Linke, weil sie sich nach wie vor daran festbeißt, dass Hartz IV ein reines Verarmungsprogramm war. Dass seit der Verabschiedung der Hartz-Gesetze aber eben auch die Arbeitslosigkeit deutlich gesunken ist, wird als Teil der Wirklichkeit ausgeblendet. Die Antwort beider Fraktionen heißt: Umverteilung.
Die Grünen sind damit allerdings schon einmal aufgelaufen. Sie hatten den Wählern 2013 ein taffes Steuererhöhungsprogramm angeboten. Doch die lehnten dankend ab – unter anderem, weil die schrumpfende Mitte zur Kenntnis nehmen musste, dass auch sie Ziel grüner Steuererhöhungen war. Wenn ein Teil der ökonomisch verunsicherten Bevölkerung aber annimmt, dass für sie Verschlechterungen geplant sind, ist das politisch tödlich.
Vielleicht hilft da André Brie, der fordert, die Entrechteten, Arbeitslosen und Arbeiter zu vertreten – bis hin zur gesellschaftlichen Mitte. Die reicht beim Autor des ersten linken Grundsatzprogramms bis zu einem Einkommen von rund 100.000 Euro. Erst oberhalb davon dürfe Umverteilung ansetzen. Zum Vergleich: Bei den grünen Steuerplänen wären Einkommen ab 60.000 Euro zur Ader gelassen worden.
Aber es geht nicht nur um Inhalte, sondern auch um den Stil. Wer den Zusammenhalt der Gesellschaft herstellen wolle, betont der 30-Prozent-Mann Winfried Kretschmann, der müsse auch den richtigen Ton treffen.
Nicht jeder in der Opposition sieht das so. Die Parteichefs der Linken haben gerade angekündigt, die Tonlage verschärfen zu wollen. Das Motto lautet: Wenn die Arbeiter unsere Parolen nicht gehört haben, müssen wir nur umso lauter nach Umverteilung rufen – dann klappt das schon.
Bei den Grünen ist es ähnlich. Erik Marquardt aus dem Parteirat sieht nach Kretschmanns Wahlsieg die paradoxe Chance, dass das grün regierte Bundesland nun unwichtiger werde. „Die Grünen dürfen sich nicht kleiner machen, als sie sind“, sagt er mit Blick auf den Sperr-Riegel, den man im Bundesrat aufbauen könnte. „Die Sperrminorität muss öfter für klar grüne Positionen eingesetzt werden – nicht zur Profilierung auf Kosten der Grünen.“
Wie man es auch dreht und wendet. Die Opposition im Bundestag ist in einem kritischen Zustand. Als beim grünen Länderrat Gerhard Schick sein Recht auf Opposition zum zentralen Stilmittel erklärte, trat der grüne hessische Fraktionschef Mathias Wagner ans Pult. In Hessen sind die Grünen Juniorpartner in der Regierung. „Wir sollten uns nicht selbst wegquatschen“, gab Wagner den Hinweis, „dass der Gewinner in Baden-Württemberg ein Grüner war“. Es gehe nicht um andere Positionen. „Es ist schlichtweg wichtiger, was hat ein grüner Antrag zur Lösung von realen Problemen zu leisten, als die Frage, ob dieser Antrag im Parteirat der Grünen mehrheitsfähig war.“
Da habe auch die grüne Bundestagsfraktion eine wichtige Aufgabe zu leisten. Sie habe exzellente Arbeit gemacht, sagte Wagner. „Aber das müssen wir jetzt zuspitzen. Wir müssen den Menschen konkret sagen, wie wir die Republik verändern wollen.“
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