Ein Blick schon hätte Martin Schulz geholfen. Ein Blick in eine der neueren Studien über die Mittelschicht. Dann hätte der SPD-Vorsitzende etwa lernen können, dass sich inzwischen 49 Prozent der Deutschen als „besonders wohlhabend“ ansehen. Das Spezielle daran ist, dass sich diese Hälfte der Bevölkerung zugleich „ihrer Zukunft nicht mehr sicher ist“.
Das sind die potenziellen Wähler von Martin Schulz: Sie fühlen sich reich an Möglichkeiten, wollen aber vor sozialem Abstieg und Statusverlust geschützt werden. Das Problem ist nun, dass Schulz (und, genau besehen, die rot-rot-grüne Linke) für diesen großen Block der Wähler quasi kein Angebot im Programm hat. Es wäre aber falsch, nein, geradezu fahrlässig, bei einer Wahl als Spitzenkandidat anzutreten, wenn man für die Masse der Wähler nichts im Köcher hat. Die SPD sollte für diese Menschen mit sozialen Ängsten eine linke Steuerreform anbieten. Das Ziel ist ein ursozialdemokratisches: der Mitte wieder die Möglichkeit zum Aufstieg zu geben.
Aus der Mitte nach oben!
Das große Thema der bevorstehenden Bundestagswahl heißt Gerechtigkeit. Martin Schulz steht dafür als Person. Nach seiner Ausrufung zum Kanzlerkandidaten erntete er viel Zuspruch – weil er ein Held des Aus-der-Mitte-nach-oben-Märchens ist. Der Sohn eines kleinen Polizeibeamten erkämpfte sich das Abitur auf dem zweiten Bildungsweg, wurde Buchhändler, Bürgermeister, schließlich Präsident des Europäischen Parlaments. Schulz’ Karriereweg quer durch die Mitte steht symbolisch für die „hart arbeitenden Menschen“, die er so gern beschwört. Seit Gründung der SPD vor 150 Jahren sind sie Referenzpunkt dieser Partei der Arbeiterbildungsvereine. Ihr Ziel: Aufstieg.
Die Frage ist nun: Warum tut Martin Schulz dann nichts für diese Mitte? Gerechtigkeit im landläufigen Sinne bedeutet ja, dass man fairen Lohn für seine Leistungen erhält – und dass alle Teile der Gesellschaft nach oben kommen können. Genau dieses Gerechtigkeitsgefühl wird gerade in unzähligen Studien als gefährdet bezeichnet. Die Mitte wird immer dünner, sie schrumpft und gerät zusehends unter Druck. Wir leben – so das schärfste und zugleich prägende Diktum des Soziologen Oliver Nachtwey – gar nicht mehr in einer Aufstiegsgesellschaft, sondern in einer des Abstiegs.
Die gefährdete Gruppe befindet sich also nicht nur unten, sondern auch in der Mitte. Für sie ist Abstieg ein konkretes Risiko geworden. Diese Gruppe ist nun ziemlich groß, sie bewohnt das soziologische Riesenreich, das etwa 70 Prozent der Gesellschaft ausmacht. Die Mitte beginnt bei den Menschen, die circa 1.700 Euro monatlich verdienen, Uni-Absolventen mit erstem Gehalt, sie schließt auch kleine Bürgerliche und Beamte ein, die stolz auf ihre Bildung sind, und reicht bis hin zu Leistungsträgern, die 8.000 oder gar 9.000 Euro verdienen. Davon aber tragen sie verhältnismäßig wenig nach Hause, weil die Steuer, genauer die Progression, klaffende Löcher in ihren Mittelstandsbauch reißt.
Die Mitte der Gesellschaft rangiert, vom Gehalt her, bei Bruttoeinkommen zwischen 35.000 und 107.000 Euro jährlich. Nun trägt sich steuerrechtlich etwas zu, was man als grobe gesellschaftliche Ungerechtigkeit bezeichnen muss: Das Zentrum dieser Mitte, nämlich zu versteuernde Einkommen von 53.000 Euro, wird nach dem herrschenden Steuertarif bereits als Topverdiener eingestuft. Die Mitte bezahlt den Spitzensteuersatz! Das bedeutet, von ihrem Herzen an aufwärts wird die Mittelschicht zu den Reichen gerechnet. Es ist aber zutiefst ungerecht, die Mitte als (böse) Spitzenverdiener zu brandmarken – und zur Kasse zu bitten. Und es ist übrigens wahltaktisch auch sehr dumm.
Ein linker Politiker wie Martin Schulz muss die Anomalie des deutschen Steuertarifs – ein steiler Anstieg ab 14.000 Euro und das Einsetzen des Maximalabzugs bereits bei 53.000 Euro – zum Thema machen. Denn es ist seine Klientel, die betroffen ist. Er muss das ändern, will er seine eigenen Worte ernst nehmen: dass er die hart arbeitenden Menschen um der Gerechtigkeit willen entlasten will. Aber was macht Schulz? Er spielt Verstecken. Fragen nach seinem Steuerkonzept lässt er seit Wochen unbeantwortet. Das Steuerthema sei noch nicht veröffentlichungsreif. Solche Plattitüden hört man. In Wahrheit hat die Geheimnistuerei einen simplen Grund. Die SPD will – ganz ähnlich wie Grüne und Linke – die Mittelschicht nicht direkt entlasten. Das Geld soll über Umwege zu ihr kommen. Etwa über die Abschaffung der Kita-Gebühren, mithilfe besseren sozialen Wohnungsbaus oder anderer gesellschaftlicher Investitionen. Niemand freilich weiß, ob diese Entlastung jemals ankommen wird. Und viele Singles und Kinderlose fragen sich: Was ist eigentlich mit uns?
Verrat am Wähler
Was Schulz und die SPD hier praktizieren, ist Verrat an dem größten Wählerreservoir, das es in der Gesellschaft gibt. Die pekuniären Sorgen der Mittelschicht werden nicht nur ignoriert, die Mitte muss sogar damit rechnen, noch stärker zur Ader gelassen zu werden. Denn eins steht in den Plänen von SPD, Linken und Grünen bereits fest: Der Spitzensteuersatz wird auf jeden Fall weiter angehoben, es ist nur die Frage, ob es „nur“ auf 45, 49 oder gleich auf 53 Prozent hochgeht. Oder gar auf 75 Prozent. Eine Mittelschicht aber, die als Topverdienerschaft und Objekt von Spitzensteuern taxiert wird, muss eine solche Politik tief verunsichern. Wer wie die SPD, viele Grüne und die Linke das Wort Steuersenkung vermeidet wie der Teufel das Weihwasser, der stellt für die mächtigste Wählergruppe, die fragile Mitte, eine echte Bedrohung dar.
Es wird oft gesagt, die SPD müsse sich um die Abgehängten der Gesellschaft, die prekarisierten Bezieher von Hartz IV usw. kümmern. Ja klar muss die SPD das. Da sind andere Instrumente als die Steuerpolitik gefragt, etwa, dass Hartzer mehr von Zuverdiensten behalten können. Die SPD soll dort kreativ sein – aber sie darf sich nicht auf die Rolle einzig und allein des Anwalts einer kleinen Gruppe von rund 16 Prozent Sozialhilfeempfängern und Minijobbern reduzieren lassen. Sonst braucht sie zur Wahl gar nicht erst anzutreten. Zur Kernklientel der Sozialdemokraten gehört die Mitte bis hinauf zu den 9.000ern. Es sind die vielzitierten Programmierer, Anwälte, Architekten, Werbetexter, Steuerberater, Banker, mittlere Manager und so weiter. Sie sind nicht arm. Aber sie wollen nicht in Krisen geraten, wenn sie Familien gründen und/oder sich Wohneigentum zulegen. Soziale Gerechtigkeit ist deswegen ein Topthema in der Gesellschaft, weil alle wissen, vom Hartz-IV-Empfänger bis zum 100.000-Euro-Verdiener, dass ihr Status alles andere als sicher ist; dass ihre Zuverdienste entweder die Arbeitsagentur oder der Fiskus einzieht. Es ist unverständlich, warum die SPD diese Gruppe in die Arme der FDP treibt – indem sie sich stets nur um Steuererhöhungen streitet, anstatt das Wort „Steuersenkung“ zu ihrem Wahlkampfschlager zu machen.
Es ist auch richtig, dass die SPD groß in marode Infrastrukturen und Daseinsvorsorge investieren will. Aber es ist falsch, diese Investitionen mit Fantasiesummen zu beziffern – und dem Mitte-Bürger dann gnädig die Backe zu tätscheln: Schau’n wir mal, was für dich übrig bleibt! Die Wähler wissen ganz genau, was das für sie bedeutet. Sie haben dem herrschenden rot-rot-grünen Gerechtigkeitsmodell der Umverteilung durch Erhöhung des Spitzensteuersatzes inzwischen dreimal die schwarze Karte gezeigt. Martin Schulz hat es versäumt (und sich dämlicherweise verbieten lassen), sein Modell der Entlastung für die „hart arbeitenden Menschen“ plausibel zu machen – und es endlich prominent zu vertreten. Mit jedem weiteren Tag des Zögerns in dieser Frage rutscht die Schulz-SPD weiter ab. Es wird Zeit, ein klares Signal an das weite Feld der Mitte zu senden: Wir Linke sind auch für euch da!
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