Ultimatives Tatmittel

Cybergrooming Online-Games, Chats und soziale Netzwerke sind ein Dorado für Pädokriminelle geworden. Der Missbrauchs-Beauftragte der Regierung warnt

Der Schweizer 12jährige Paul wurde bei Minecraft vom virtuellen Spielpartner zum realen Opfer eines Pädosexuellen. Aber Paul ist längst kein Einzelfall mehr. Der Unabhängige Beauftragte der Bundesregierung gegen sexuellen Kindesmissbrauch, Johannes-Wilhelm Rörig, warnt davor, dass das Internet den sexualisierten Zugang zu Kindern und Jugendlichen völlig verändert hat. Rörig stellte am Dienstag die Studie „Sexualisierte Grenzverletzungen und Gewalt mittels digitaler Medien“ vor. Sie zeigt, „dass die Bandbreite sexualisierter Grenzverletzungen und Gewalt gegen Kinder und Jugendliche im Internet enorme Ausmaße angenommen hat“. Die Missbrauchshandlungen reichen von sexuellen Übergriffen online über gezieltes Anbahnen physischer sexualisierter Gewalt bis hin zum Verbreiten von Missbrauchsabbildungen (die fälschlicherweise „Kinderpornografie“ genannt werden).

Den Umfang des Phänomens hat die Universität Regensburg erforscht. In der repräsentativen Mikado-Studie gaben 5,3 Prozent der Befragten an, im Netz sexualisierte Kontakte zu Kindern zu haben. Das wären auf die Gesamtbevölkerung hochgerechnet 728.000 Erwachsene, die mit Kindern im Netz über Sex oder Pornografie kommunizieren.

„Wenn einmal Nackt-Aufnahmen von dir im Netz existieren, dann gehen die nie wieder weg“.

Alex Stern, der selbst Opfer sexualisierter Gewalt wurde, schilderte bei der Fachtagung des Unabhängigen Beauftragten das Problem, das jugendliche Betroffene nach sexuellen Online-Kontakten haben: Sie müssten damit rechnen, dass "extrem beschämende Aufnahmen" von ihnen im Netz kursieren – und jederzeit in ihrem Bekanntenkreis auftauchen können. „Wenn einmal Nackt-Aufnahmen von dir im Netz existieren, dann gehen die nie wieder weg“, sagte Stern. Er gehört dem Betroffenenrat Rörigs an und ist aktiv in Selbsthilfegruppen, in denen sich Betroffene gegenseitig beraten.

Der junge Mann berichtete, dass auch viele Jugendliche in den Selbsthilfeforen Fragen stellten. Ein Grund dafür, dass Jugendliche Hilfe suchen, kann sein, dass bei ihnen Sexting außer Kontrolle geraten ist. Sexting bedeutet, Nacktbilder von sich zu tauschen oder sich gegenseitig Abbildungen eigener sexueller Handlungen zu schicken. Bei einem Viertel der Jugendlichen ist das inzwischen verbreitet. Das Problem tritt auf, wenn einer der Empfänger damit droht, die kompromittierenden Aufnahmen zu veröffentlichen.

Jugendliche mit Nackt-Aufnahmen zu erpressen, gehört zum festen Repertoire von Missbrauchstätern. Der bekannteste Fall ist der, der zur Selbsttötung von Amanda Todd führte. Die Kanadierin versandte mit 12 Jahren ein Nacktbild von sich, wurde danach jahrelang von ihrem Peiniger – aus den Niederlanden – gestalkt und erpresst. Mit 15 Jahren brachte sie sich um – und schilderte vor ihrem Suizid die ganze Geschichte in einem Video.

Eingebetteter MedieninhaltSolche Fälle finden sich allerdings nicht mehr nur im fernen Kanada. Einer der spektakulärsten führte zum Bad-Hersfelder Sexting-Urteil, bei dem ein Vater gerichtlich gezwungen wurde, WhatsApp vom Smartphone seiner beiden Töchter zu entfernen - weil ein Täter hatte über die App immer wieder Kontakt zu den Mädchen aufnahm.

Das Internet erleichtert es Tätern, die Beziehungstat Missbrauch zu begehen. Denn der Zugang zu ihren potenziellen Opfern ist über das Netz so leicht geworden. „Das Smartphone ist das ultimative Tatmittel für Täter“, zitierte die Nachrichtenagentur AFP Julia von Weiler, die die „Konzeptgruppe Internet“ des Unabhängigen Beauftragten leitet. „Das Smartphone erlaubt den beständigen, vielfältigen, unmittelbaren und ungestörten Kontakt zu Opfern“. Intelligente Telefone gehören zum selbstverständlichen Alltagsgegenstand Jugendlicher. Laut der jüngsten JIM-Studie [Folie 18] über das Netzverhalten Jugendlicher haben 91 Prozent der 12- und 13jährigen ein Smartphone, 62 Prozent haben eine Flatrate für den Netzzugang. Ihre Online-Lieblingsspiele sind Minecraft, Fifa und Clash of Clans – alle mit Chatfunktion und damit eine einfache Zugangsmöglichkeit für Cybergroomer; Grooming ist der Fachbegriff für das Schmeicheln und Manipulieren von Kindern für Missbrauch.

„Es wäre falsch, wenn über den Digitalpakt nur Hardware für die Schüler angeschafft wird. Es muss auch Prävention gegen Cybergrooming enthalten sein.“

Der Missbrauchsbeauftragte Rörig forderte, Konsequenzen aus den Erkenntnissen der Studie „Sexualisierte Grenzverletzungen und Gewalt mittels digitaler Medien“ zu ziehen. Er forderte die Bundesregierung auf, ihre Digitalstrategie für Schulen mit Aufklärung zu verbinden. „Es wäre falsch, wenn über den Digitalpakt der Bildungsministerin nur Hardware für die Schüler angeschafft wird. Es muss auch Prävention gegen Missbrauch und Cybergrooming enthalten sein.“ Rörig forderte zudem, schon den Versuch des gezielten Anmachens zum Zwecke sexueller Gewalt strafbar zu machen. Der Brandenburger Kriminologe und erste Cyberpolizist Deutschlands, Thomas-Gabriel Rüdiger, hält das für zu weitgehend. Er sagte dem Freitag, „dass bereits jetzt die bloße Kontaktaufnahme im Internet mit dem Ziel der Einleitung eines sexuellen Missbrauchs strafbar ist“.

Alex Stern ahnt, dass es so schnell keine Hilfen oder Gesetzesänderungen gegen Cybergrooming geben wird. Er sagte, eine schnelle und zielgenaue Hilfe wäre es, Blogger und Selbsthilfegruppen finanziell zu unterstützen. „Denn das Netz ist nicht nur ein Tatort. Digitale Medien bieten für Betroffene auch eine große Hilfe.“

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