Im Jahr 2006 erschien ein Text, der die unerträgliche Ungerechtigkeit des deutschen Bildungssystems offenlegte. Der Autor zeigte, dass sehr viele Schulen in Deutschland mit dem Menschenrecht auf Bildung nicht vereinbar sind. In manchen Bundesländern existierten Hauptschulen, in denen neun von zehn Schülern des Lesens nicht mächtig seien. Dort könne es nur eine Art der Reform geben: Sie seien zu schließen.
Der Autor hieß Jürgen Baumert, er war Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung. Sein Text hätte in anderen Staaten zu einem Aufschrei geführt, mancherorts wären Untersuchungsausschüsse berufen worden. Es hätte Rücktritte gegeben. Nicht so in Deutschland. Hier beschwerte sich der Pressesprecher des MPI bei der einzigen Zeitung, die den Aufsatz referierte, wie unerhört es sei, den Direktor mit solchen Sätzen zu zitieren. Niemand, kein einziges Journal, kein Sender, kein Politiker, kümmerte sich um das Skandalstück. Der Stein des Anstoßes fiel in den See, ohne dass sich die Wasseroberfläche auch nur gekräuselt hätte.
Das Gymnasium ist für Reiche reserviert
Man muss diese Vorgeschichte erzählen, damit klar wird, wie irrwitzig und zugleich essenziell die neueste Studie zur Bildungsungerechtigkeit ist. Sie heißt Chancenspiegel, enthält keine einzige neue Zahl, stammt von der neoliberalen Bertelsmann-Stiftung – und sie ist dennoch lebenswichtig für die Demokratie. Weil sie, im Jahr elf nach Pisa, als erste Studie die Gretchenfrage stellt: Dürfen deutsche Schulen so ungerecht sein? Und die zugleich die unmissverständliche Antwort gibt: Nein!
Die Studie zeigt, dass die Bundesländer den Zugang zum Gymnasium für sozial bevorzugte Schichten reservieren und für Arme absichtlich verriegeln; dass sie mangelnden Buchbestand in Familien mit schlechten Noten bestrafen und Hauptschüler unfähig machen, Lehrstellen zu bekommen. Und so weiter.
Die Studie ist eine Ohrfeige. Auch für die Linke, die immer aufkreischt, wenn irgendwo auch nur ein Cent Studiengebühr verlangt wird – aber tatenlos zusieht, wie ganze Schülergenerationen zu Arbeits- und Sozialämtern abkommandiert werden. Und die Studie ist ein Rücktrittsgrund – für alle Kultusminister. Sie brechen fortgesetzt den Eid, mit dem sie auf die Landesverfassung geschworen haben, allen Kindern die besten Chancen einzuräumen. Und sie sabotieren, dass die Menschen davon erfahren: Die Kultusminister haben für den „Chancenspiegel“ die Herausgabe von Daten mit der arroganten Begründung verweigert, Ländervergleiche seien nicht die Sache unabhängiger Institute.
Es gibt Tausende Rütlischulen
Es muss etwas passieren. Denn es geht ja nicht um die bunten Schaubilder und Tabellen des Bertelsmann-Berichts. Es geht um 80.000 Schulabbrecher jährlich; um über 400.000 Sonderschüler, die in ihren Schonräumen gefangen sind; um Hunderttausende Jugendliche, die in endlosen Warteschleifen auf Lehrstellen hoffen. Um Zigtausende Kinder, die am Tag ihrer Einschulung bereits abgehängt sind, weil Staat und Gesellschaft nicht verstanden haben, wo die Einwanderungsgesellschaft ihre Eintrittskarten vergibt: im Kindergarten.
Was kann man tun? Vieles. Aber es muss klar sein, wer Priorität hat: die 3.000 kaputten Schulen, die meist in den schwierigen Sozialräumen der Metropolen liegen. Für diese braucht das Land einen Notfallplan. Wie der aussehen kann, hat die Rütlischule in Berlin gezeigt. Dort gab es eine gemeinsame Anstrengung von Gesellschaft und Staat. Sogar Straßen wurden für den neuen Campus gesperrt. So wurde aus der Krisenschule eine, auf der Neuköllner Migrantenkids Abitur machen können. Viele Stiftungen engagierten sich dort – aber warum nur dort? Es gibt Tausende Rütlischulen in Deutschland.
Dass der Bertelsmann-Vorstand Jörg Dräger es war, der dem Land das Ein-mal-eins der demokratischen Schule beigebracht hat, kann man durchaus als Symbol sehen. Den Ausweg aus dieser schweren Krise findet der Staat nicht allein. Wie auch? Er betreibt seit Jahrhunderten ein Schulsystem, das Chancen exklusiv für bürgerliche Schichten reserviert. Bildungsarmut ist kein Betriebsunfall, sondern in Kauf genommene Nebenwirkung des gegliederten Schulunwesens.
"Teach First" muss Schule machen
Das heißt, die Industrie, die über nicht ausbildungsreife Schüler jammert, muss in Milliardenhöhe einen Zukunftsfonds zur Erneuerung kaputter Schulen bestücken. Die Stiftungen sollen ihr Know How einbringen, das sie bislang nur in homöopathischen Dosen ins Land injizieren. Und es müssen die Bildungsengel von „Teach First“ mitmachen. Das sind exzellente Uni-Absolventen, die erst in Gettoschulen helfen wollen, ehe sie ihren Berufsplan verwirklichen.
Diese private Initiative ist zugleich ein Skandal im Skandal der deutschen Schule. Denn nur 100 Freiwillige dürfen derzeit mitmachen, obwohl 800 junge Akademiker Schlange stehen, um benachteiligten Kindern über Bildungshürden zu helfen. Sie können nicht anfangen, weil Industrie, Schulbehörden und Gewerkschaften sich gegenseitig blockieren. Das ist ein starkes Zeichen – für die Verantwortungslosigkeit des Bildungssystems. Wer den Ausgang der Schule aus ihrer selbstverschuldeten Ungerechtigkeit ermöglichen will, der muss diesen Knoten der Unzuständigkeit zerschlagen.
Christian Füller bloggt unter pisaversteher.de
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