Das hätte kaum jemand für möglich gehalten. Dass es noch mehr Hass und Abscheu geben könnte, der sich in Leserkommentaren der Online-Ausgaben oder bei Facebook Bahn bricht. Aber die missbrauchte Silvesternacht in Köln hat die finstersten Befürchtungen übertroffen. Mit den sexistischen und rassistischen Hasstiraden geht auch eine schöne Hoffnung zugrunde: die auf mehr Partizipation und einen kreativeren Diskurs durch eine durchlässigere, weil digitale Demokratie. Jedenfalls fürs Erste.
Das Letzte, was sich selbst die Fans der plebiszitären Auffrischung der Demokratie angesichts des Unflats und der Volksverhetzung wünschen, ist das: Volksabstimmungen, bei denen mit Netz-Kampagnen voller Sexismus, Lügen und gefälschten Videoschnippseln das Volk aufgestachelt wird. Das Plebiszit galt als die große Hoffnung, die Verengungen der liberalen Demokratie zu überwinden. Auch andere als Parlamentarier sollten Einfluss auf politische Entscheidungen bekommen. Das Internet und seine zweite Zündstufe, die sozialen Medien, unterstützten diesen Traum durch immer neue Foren und Kanäle der Beteiligung.
„Nur der Charakter der Bürger erschafft und erhält den Staat, und macht politische und bürgerliche Freiheit möglich.“
Liquid Democracy hieß eine der Ideen, die andere Formate von Repräsentation und Partizipation aufzeigte. Gepaart mit ihrem Vorläufer, der deliberativen Demokratie, hätte sie den demokratischen Diskurs verflüssigen können. Jürgen Habermas empfahl erweiterte Formen des Deliberierens, also Beratschlagens und Erörterns, in der demokratischen Agora – und das Netz schien wie gemalt, um solche Konferenzen in virtuellen Denkräumen einfacher und schneller abhalten zu können. Aber von Verflüssigung der Diskurse kann, ehrlich gesagt, spätestens seit Köln nicht mehr die Rede sein. Das Stichwort heißt: Vergiftung. Alles, was gerade nötig scheint, wäre Entschleunigung und Versachlichung des Diskurses.
Strafanzeigen wegen Volksverhetzung
Zwei Momente, so scheint es, haben die Apologeten der digitalen Republik zu wenig beachtet. Erstens ist es offenbar nicht damit getan, dass heute jeder Bürger technisch sein eigener Leitartikler sein kann – bei Facebook, im Blog oder als Leserbriefschreiber. Dazu gehört freilich die Professionalität und ein ethischer Kodex, den Journalisten – in der Regel – gelernt haben und zu achten bereit sind. Recherche, Faktentreue, Schreiben, das sind keine Fertigkeiten, die für jeden Entäußerer im Netz selbstverständlich sind, ganz im Gegenteil. Das einzige Feedback, das sich Vernünftige derzeit erhoffen, ist kein liquides – sondern Strafanzeigen wegen Volksverhetzung und Ehrabschneiderei.
Zweitens bezogen sich die Dimensionen der digitalen Partizipation meistens auf die konstruktiven Möglichkeiten, bei schönem Wetter Neues und Kreatives zu schaffen. Wenn liquide Beteiligungen gedacht wurden, dann meist als Ideenspenden, die Parlamente und Abgeordnete mit schwärmerischer Intelligenz aufmischen. Oder als wohl temperierte Resonanzböden für Politiker, die sich zwischen Wahlterminen immer wieder mit Wählern oder Bürgern rückkoppeln. Das idealisierte digitale Pendant des gewählten Abgeordneten oder politischen Funktionsträgers war stets ein sachverständiger wie engagierter Experte. Wir erträumten uns den Kundigen der örtlichen Lage als Sparringspartner. Meistens half er vor unserem inneren Auge, politische Felder oder die Politik selbst in eine lichtere Zukunft durch Rückversicherung und Anregung weiter zu entwickeln.
Der Pöbel definiert den Ausnahmezustand
Nun tritt eine Figur auf, die bisher nur als Netiquette-Problem begriffen wurde: der übellaunige Leserbriefschreiber, der Wutbürger, ja der beleidigende Extremist überflutet uns mit seinem Feedback – und nicht der digitale Citoyen. Es geht aber nicht mehr um die Sonnenscheindemokratie, sondern den Ernstfall und den Ausnahmezustand. Und dieser Ernstfall wird nicht durch Politik und Presse definiert, sondern durch sein vermeintlich vernünftiges Korrektiv. Der Pöbel hat die Definitionsmacht übernommen, Politiker und Leitartikler sind in keiner Weise mehr leitend, sondern leidend, karikiert als verrottete volksverachtende Eliten. Nicht mehr die Atmosphäre auf diesem oder jenem Forum steht auf dem Spiel, es ist das Politische schlechthin. Die digitalen Kanäle sind Kloakenrohre geworden, aus denen auf das vermeintliche „System“ und seine Vertreter gefeuert wird. Es riecht nach Umsturz, und inzwischen schwadroniert mancher abgehalfterte Verfassungsschutzpräsident darüber.
Wie immer stellt sich die Henne- und Ei-Frage. Was muss zuerst kommen, der mündige Bürger, der seinen Blog-Post, seinen Kommentar überdenkt und wägt, ehe er ihn absendet? Oder eine zunehmend liquider werdende politische Verfassung, die ihre Bürger Schritt für Schritt in relevantere Arenen einlädt und sie so zu urteilsfähigen Teilgebern eines politischen Diskurses macht?
Bürger für die Verfassung erschaffen
Diese Fragestellung ist uralt. In seinen Briefen über die ästhetischen Erziehung mokierte sich Friedrich Schiller vor über 200 Jahren über die französische Revolution – weil sich die Bürger „nach aufgehobenem Band der bürgerlichen Ordnung entfesseln und mit unlenksamer Wut ihrer tierischen Befriedigung zueilen.“ Der aufgeklärte Mensch der zivilisierten Klassen stürze bis zum Teuflischen herab. „Nur der Charakter der Bürger [und nicht die Institutionen oder Gesetze, Red.] erschafft und erhält den Staat, und macht politische und bürgerliche Freiheit möglich“, lautete Schillers Annahme. Seine Folgerung war klar: „Wir müssen damit anfangen, für die Verfassung Bürger zu erschaffen, ehe man den Bürgern eine Verfassung geben kann.“
Auf heute gemünzt hieße das: Ehe man den Bürgern Liquid Democracy gibt, müssen sie erstmal schwimmen lernen.
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