Videos zum Frühstück

Lernen Schule mit Tablets, Blogs und Apps ist oft ein Wolkenkuckucksheim. Eine Berliner Konferenz macht’s anders
Ausgabe 48/2015

Was für ein Verhau! Schüler sitzen gruppenweise um Computer, jeder von einer anderen Marke mit jeweils anderem System. Strippen spannen sich quer durch den Raum, weil die prähistorischen Rechner an altersschwachen Akkus leiden. Um von Lerngruppe 1 an der Tafel zu Gruppe 4 am Lehrerschreibtisch vorzudringen, muss man unter diversen Ladekabeln durchkrabbeln.

Und das alles nur, weil sich die Lehrerin fürchtet – vor Medien wie Tablets und Apps. Statt auf den Vorschlag der Eltern einzugehen, dass sich jeder Schüler auf dem Rechner sein multimediales Buch anlegt, in das er Fotos, Interviews und Filme im Original einbindet, setzt die Pädagogin auf die gute alte Kopiertechnik. Sie druckt aus, hektografiert, schnippelt und klebt mit den Methoden von vor 30 Jahren umständlich eine Broschüre zusammen, die wie eine Schülerzeitung aussieht. Sie habe nicht genug Computer, sagt sie, und kenne das nicht. Dabei hat sie ein famoses fächerübergreifendes Projekt für die Klasse entworfen: Besuch der griechischen Kunst der Antike im Berliner Alten Museum, sogar Schulleiter und IT-Lehrer sind dabei.

Geht es nach den Organisatoren des Lehrerkongresses „Exciting Education“ (kommende Woche 3./4. Dezember in Berlin), muss kein Lehrer mehr Angst vor der Technik haben. Denn dort wird nicht über digitale Wolkenkuckucksheime disputiert, sondern praktisch gezeigt, was digitales Lernen sein soll.

Keine Spinnereien

Der Kongress ist ein großer Workshop – die besten Digitallehrer aus Deutschland werden dort mit Schülern arbeiten. Und das nicht in einem noblen Gymnasium, sondern einer Schule, die einst als Ghettoschule galt. Die Heinrich-von-Stephan-Schule in Berlin-Mitte, eine reformpädagogische Gemeinschaftsschule, die kommendes Jahr ihre ersten Abiture vergeben wird..

„Ich find’s gut, weil ich mir die Erläuterung des Lehrers mehrmals anschauen kann“, sagt eine Schülerin der 6c einer Neu-Ulmer Realschule. Das Mädchen spricht nicht über den Kongress, sondern über ihren Lehrer Sebastian Schmidt und seine Lernvideos. Er ist einer der zwei Dutzend flipped-classroom-Lehrer, die in Deutschland das umgedrehte Klassenzimmer praktisch anwenden. Schmidt zeigt in jeder Mathematikstunde ein Filmchen, das er zu Hause aufgenommen hat. In den kurzen Videos geht es darum, den Stoff so klar wie möglich aufzubereiten – aber auch unterhaltsam. „Länger als acht Minuten sollte so ein Video nicht dauern“, sagt der 33-jährige Lehrer, der in Berlin dabeisein wird.

Der Clou seiner Lehrform besteht darin, dass er den frontal-instruktiven Teil aus der Schulstunde ins Video auslagert – und so im Unterricht viel mehr Zeit hat, auf die Stärken und Schwächen seiner Schülerinnen einzugehen. Besucht man Schmidt in seiner Schule, kann man sehen, dass seine Art des Lehrens und Lernens zum Beispiel für die Mädchen gut ist. Insgesamt ist die Klasse schon nach wenigen Minuten im Thema – denn die allermeisten haben sich das Video von Schmidt zu Hause angeschaut, manche erst zum Frühstück oder gar nicht, andere mehrfach. In der normalen Mathestunde könnten sie ihren Studienrat nicht zurückspulen. Und sie hätten ihren Lehrer auch nicht an ihrer Seite, wenn sie über den Aufgaben brüten.

Sebastian Schmidt kommt aus einer alten Lehrerfamilie. Das Digitale ist bei ihm kein Selbstzweck, sondern es dient dazu, das Lernen spannender und die Ergebnisse besser zu machen. Da steht das digitale Lernen durchaus unter Beweispflicht. Neue Studien der OECD nämlich haben ein für Digitallehrer unbequemes Ergebnis gebracht: In den letzten zehn Jahren hätten jene Länder keine nennenswerten Fortschritte bei den Leistungen gemacht, die stark in elektronische Lerntechnologien investierten. So lautete das Fazit des Ober-Pisa-Forschers, Andreas Schleicher. Der Fan-Szene des digitalen Lernens passt das überhaupt nicht. Sie zitiert lieber die Vorgängerstudie von 2014, bei der Deutschland in der Computernutzung mehrfach das Schlusslicht innehatte – nur 1,6 Prozent der deutschen Schüler haben täglich Computer im Unterricht zur Verfügung.

Ideologische Debatten interessieren die Macher des Kongresses nicht. „Draußen an den Schulen sind eine Menge Lehrer, die mit digitalen Medien sensationellen Unterricht machen“, sagte Mitorganisator David Klett. „Die wollen wir haben – und uns deren möglicherweise neues Lernen anschauen.“ Die Digital-Szene soll dabei nicht unter sich bleiben. Unter den mehr als 200 Angemeldeten seien „Didaktiker und Experten, die das Lernen 2.0 anschließend in Workshops besprechen“, kündigte der Geschäftsführer des Verlags Klett MINT an.

In Berlin werden all jene Lehrer mit an Bord sein, die im Jubelbuch über die „digitale Bildungsrevolution“ vom Vorstand der Bertelsmann-Stiftung Jörg Dräger nicht vorkamen, weil der fast nur Amerikaner zitierte. Zu den deutschen Digitallehrern gehört André Spang, der Kölner Vorreiter von Tabletklassen; oder der niedersächsische Gymnasiallehrer Maik Riecken, der über Schreibprozesse in Deutsch durch Einsatz von Blogs sprechen wird; oder der Hamburger Lehrer Dietmar Kück, der ein sogenanntes Bring-Your-Own-Device-Projekt leitet: Er lehrt mit den Geräten, die die Schüler selbst mitbringen; und der Frankfurter Gründer des „Education-Chats“ auf Twitter, der Gymnasiallehrer Torsten Larbig, will zeigen, wie man „digitale Medien möglichst selbstverständlich in den Unterricht integriert, ohne dazu besondere Laptop- oder Tabletklassen bilden zu müssen“.

Team-Teaching mit Gastgeber

Wie so oft bei Digital-Veranstaltungen überwiegen wieder die Gymnasiallehrer. Da ist es vielleicht ganz gut, dass die Workshop-Konferenz an einer Schule stattfindet, die nur ein Drittel gymnasialempfohlene Schüler hat. In der Stephan-Schule hat jeder vierte Schüler Migrationshintergrund. Die Schule kann es sich also nicht leisten, didaktische Spinnereien zu präsentieren. Hier muss sich jede Methode daran messen lassen, ob sie das Lernen leichter macht – und ob es auch den Lehrern etwas bringt. „Wir erhoffen uns einen nachhaltigen Effekt für unsere Kollegen“, sagt Jasmin Gülland, die Organisatorin aus der Gemeinschaftsschule. „Der Wunsch ist, dass es ein Team-Teaching zwischen den Gastlehrern und uns gibt. Denn die Fortbildungen zum digitalen Lernen ohne Schüler enthalten meistens nur Worthülsen und Theorien.“

Dass es echte Schüler gibt, das ist in Berlin der angenehme Unterschied zu den bisherigen Konferenzen des heißen Digital-Herbstes. Beginnend mit den beiden Bundestagsfraktionen von Union und SPD (die getrennt im Reichstagsgebäude tagten) breitete sich eine kleine Flut von Web-2.0-Kongressen aus. Dort handelte es sich, wie zuletzt im Verkehrsministerium („Computerspiele in Kinderhänden“) oder bei der Deutschen Telekom-Stiftung praktisch um Werbeveranstaltungen – Web-2.0-Skeptiker waren da nicht gerne gesehen.

Wie die Zukunft des digitalen Lernens aussieht, könnte sich der Kongress an der Berliner „Schule am Koppenplatz“ anschauen. Dort sind intelligente Tafeln und Rechner selbstverständliche Lerngeräte – die auf Wunsch der Schüler zum Einsatz kommen. Alle Kinder werden gründlich vorbereitet, wie sie sich sicher im Netz bewegen können. Für Schulleiterin Angela Thiele ist der Wissensvorsprung der Kinder bei elektronischen Medien generell ein Segen für das Schulsystem. „Sonst würden die Lehrer auch da noch versuchen, den Kindern vorzuschreiben, was und wie sie lernen müssen.“ Die Schüler, so Thiele, sind die Quellen des Wissens – und das Digitale ihr Werkzeug.

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