Von wegen machtlose Opposition

Grüne Der Streit um eine erneute Asylverschärfung zeigt vor allem eines: Gegen den Willen der Grünen läuft nichts mehr
Ausgabe 24/2016
Wer sich grüne Regierungsbeteiligungen ansieht, dem kann leicht bunt vor Augen werden
Wer sich grüne Regierungsbeteiligungen ansieht, dem kann leicht bunt vor Augen werden

Foto: Dan Kitwood/Getty Images

Die wichtigsten politischen Maße heißen im Moment: 55-14-45, und sie gelten nicht als Idealwerte für eine Wahl zu Miss oder Mister Bundestag, sondern für die Grünen. Die Bundesländer, in denen die Ökopartei mitregiert, zählen 55 Millionen Einwohner. In der jüngsten bundesweiten Umfrage landet sie bei 14 Prozent. Und im Bundesrat beeinflusst die Partei 45 Stimmen. Von insgesamt 69. Das ist beeindruckend. Es fühlt sich nicht mehr wie eine Sperrminorität an, sondern eher wie eine Gestaltungsmehrheit. Niemand kann an den Grünen vorbei ein Gesetz machen, das durch den Bundesrat muss.

Und plötzlich kommt so etwas wie Geschlossenheit hinzu. Die Grünen werden wohl ihre Hand nicht reichen, um die Maghreb-Staaten Tunesien, Marokko und Algerien zu sicheren Herkunftsländern zu machen. Es ist nicht allzu lange her, da kamen die Grünen in schweres Wetter, weil ihr Länder-Leitwolf, Winfried Kretschmann, demselben Verfahren bei einigen Balkanstaaten zustimmte. Das gab einige Kratzer am Lack der Menschenrechtspartei. Diesmal steht die grüne Abwehrfront für das Asylrecht, und sie sendet ein doppeltes Signal aus. Erstens: Wir beschmutzen nicht eines der wichtigsten ethischen und symbolischen Prinzipien, für die wir stehen – die Idee von Multikulturalismus und internationaler Solidarität. Sowie zweitens: Hallo, wir sind wieder da! Wer regieren will, der möge also gerne vorher bei den einstigen Oppositionsfetischisten vorbeischauen, um zu fragen: Was erlauben Grün?

Das ist es, was die Große Koalition verpasst hat. Mit der Empörung über das in der Öffentlichkeit weit verbreitete Bild maghrebinischer Grapscher, Missbraucher und Diebe meinte Innenminister Thomas de Maizière offenbar, er könne eine neuerliche Asylverschärfung einfach so durchbringen. Das war ein Fehler. Manche Grüne meinen sogar, das sei Absicht gewesen. „Die Regierung hat seit Monaten nichts getan, die erheblichen Zweifel auszuräumen, die viele Grüne haben“, sagt etwa der grüne Vizeministerpräsident aus Schleswig-Holstein, Robert Habeck.

Man kann die Auseinandersetzung nun als schwarz-grünen Störfall interpretieren, der den Traumpartnern im Bund für 2017 die Lust verdirbt, ehe es losgegangen ist. Das mag sein. Viel wichtiger aber ist die strategisch günstige Lage, in der die Grünen sich plötzlich befinden. Sie sind es, die den aufgeschlossenen Teil der Bevölkerung repräsentieren, nicht die Union. Dafür verschreckt Horst Seehofer zu viele Bürger, die verstanden haben, dass im Jahr 2015 kein muslimischer Überfall auf Deutschland stattgefunden hat, sondern dass Krieg, Hunger und Armut die Menschen auf eine lebensgefährliche Odyssee getrieben haben. Es sind also die Grünen, die von Merkels Willkommenskultur profitieren: in Baden-Württemberg, weil die gesellschaftliche Mehrheit sie gewählt hat. In Sachsen-Anhalt – wo sie gerade mal fünf Prozent holten – als Nothelfer der CDU, um die AfD zu stoppen.

Wer sich grüne Regierungsbeteiligungen ansieht, dem kann leicht bunt vor Augen werden. Das kann man als Beliebigkeit interpretieren. Von der FDP-eigenen Charakterschwäche scheinen die Grünen aber nicht befallen zu sein. Dafür sind sie einfach zu moralisch, zu prinzipiell. Grüne wollen eben keinen Dienstwagen, sondern lieber ein Fahrrad. Oder ein Elektroauto. Sie sind vielleicht die erste Partei, die das neue Parteiensystem verstanden hat. Grüne können (fast) mit jedem. Aber ob sie es wirklich wollen, das muss man mit ihnen erst besprechen. Ganz ernsthaft.

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Geschrieben von

Christian Füller

http://christianfueller.com

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