"Wir müssen den Kindern eine Stimme geben"

Interview Schulen brauchen in den Willkommensklassen mehr personelle Unterstützung, fordert Heike Kahl, Geschäftsführerin der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung
"Die Lehrer leisten seit langem großartige Flüchtlingsarbeit - aber es braucht Hilfe von außen"
"Die Lehrer leisten seit langem großartige Flüchtlingsarbeit - aber es braucht Hilfe von außen"

Foto: Axel Schmidt/AFP/Getty Images

Am Mittwochabend kommen die Kultusminister der Länder zusammen, um sich hinter verschlossenen Türen über Flüchtlingskinder und Schule auszutauschen. Solche geschlossenen Runden ohne Referenten und Sprecher veranstalten die Schulminister immer, wenn es wichtig ist – der Flüchtlingsstrom ist es. Ein Beteiligter der heutigen Runde sagte dem Freitag, „beim Hochwasser haben wir schneller Hilfe bekommen als bei den Flüchtlingen.“ Gemeint ist, dass der Bund zwar schnell reagiert hat – aber zusätzliche Mittel für die wichtigste Aufgabe bei der Integration, das Deutschlernen an Schulen, wurde bislang weder beschlossen noch bezahlt. Bislang stemmen die Bundesländer das alles aus der eigenen Tasche. Teilweise mit erheblichem Aufwand. Nordrhein-Westfalen hat in zwei Nachtragshaushalten im Juni und Oktober über 3.000 neue Lehrerstellen geschaffen. Bayern hat die Zahl seiner Übergangsklassen auf 471 gesteigert – es werden bald Hunderte hinzukommen. Der Bund darf, so will es die Verfassung, kein Geld für die Schulen zur Verfügung stellen.

Heike Kahl findet diesen Ansatz falsch. „Wir müssen jetzt handeln, das heißt konkret Deutschlehrer und ihre Helfer fürs Soziale einstellen“, sagt sie im Interview mit dem Freitag:

Heike Kahl

Heike Kahl von der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung. Viele Bildungsprogramme für Bund und Länder werden von der dkjs betreut

Foto: Heike Kahl

der Freitag: Frau Kahl, unter den Flüchtlingen sind Zehntausende, wahrscheinlich mehr als 100.000 Kinder und Jugendliche. Sind unsere Schulen und Kitas auf Sie vorbereitet?

Ja und Nein.

Was soll das heißen?

Es gibt fantastische Beispiele für Integration an Kitas und Schulen. Die Lehrer machen schon seit längerem großartige Flüchtlingsarbeit. Aber es braucht natürlich trotzdem Hilfe von außen. Gehen Sie einmal in eine Willkommensklasse, dann sehen sie sofort, was die Schulen brauchen.

Ja, was sieht man da?

Ich hatte das Gefühl, dass Kinder mit einem Fluchtschicksal in ihren Willkommensklassen wie verloren wirken. Sie fühlen sich fremd – auch wenn das Sprache-Lernen sie immer wieder ablenkt. Natürlich brauchen wir gute und vor allem genug Lehrer für „Deutsch als Fremdsprache“. Aber es geht nicht nur darum, Deutsch gewissermaßen als technische Fertigkeit zu beherrschen. Die Kinder haben Bindungen bitter nötig.

Und für die Bindung geben Sie jetzt die berühmten Teddybären in die Willkommensklassen?

Wenn das so einfach wäre. Nein, wir brauchen professionell ausgebildetes Personal dafür – Sozialarbeiter, Erzieher, Integrationsbegleiter, nennen Sie es, wie Sie wollen. Bei aller Kreativität in den Bildungseinrichtungen sind also zusätzliche materielle und personelle Ressourcen für sie nötig.

Beim Flüchtlingsgipfel sind jüngst sechs Milliarden Euro beschlossen worden – aber es ist unklar, ob und wie viel davon bei den Schulen ankommt.

Diese Unklarheit ist für die Schulen verheerend. Die Kollegen dort arbeiten am Limit – die müssen endlich wissen, wann sie Hilfe bekommen. Es wäre schade, die positiven Eindrücke des Willkommens im Gezänk von Zuständigkeiten zu zerreden. Die Herausforderung ist so ernst, dass sie nur zur Chance wird, wenn sie als gemeinsame Aufgabe betrachtet wird. Krisenprävention ist besser als Krisenmanagement.

Was bedeutet das ganz konkret für die Kultusminister, die am Mittwoch abend in Berlin in Sachen Flüchtlingshilfe für Schulen zusammen kommen?

Wir müssen jetzt handeln, das heißt konkret Deutschlehrer und ihre Helfer fürs Soziale einstellen. Dafür müssen Bund und Länder Geld in die Hand nehmen. Viel Geld. Aber wir dürfen insgesamt nicht im Basislager stehen bleiben. Es geht darum, Formen zu finden, wie Kommunen dabei unterstützt werden können, einen Gesamtplan zu verfolgen, in dem Bildung der zentrale Eckpfeiler ist.

Können Sie schon sagen, was das kostet?

Bisher hat niemand genaue Zahlen, weder das Bundesamt für Migration noch die Kultusminister. Aber man kann es, glaube ich, halbwegs plausibel überschlagen. Wenn im Jahr 2015 über eine Million Flüchtlinge kommen, dann können wir von bis zu 200.000 Kindern und Jugendlichen ausgehen, die sich bei den Schulen melden werden, vielleicht mit einer gewissen Verzögerung, aber so viele werden es sein. Eine wirklich gute Größe für einen effektiven Sprachunterricht wären Lerngruppen von zehn, maximal 15 Schülern. Dann wären wir also bei rund 15.000 neuen Klassen in Deutschland, die jeweils einen Lehrer und einen Integrationsbegleiter brauchen. Kurz gesagt: das wird Milliarden kosten, für die sich bis heute noch niemand für zuständig erklärt hat. Und da wir reden immer noch nur von Schule, also von Lehrern und Sozialpädagogen.

Von was müssen wir denn noch sprechen?

Das Land darf nicht noch einmal in den Fehler der Halbtagsschule zurückfallen. Es ist von Anfang an eine kommunale Zusammenarbeit mit den Schulen vor Ort nötig, damit Lernen und Freizeit bis in den Nachmittag geführt werden kann. Das ist übrigens ideal, dass die Kinder dort schon ins Sprachbad der deutschsprachigen Kinder eintauchen können. Gerade dort können die notwendigen Bindungen entstehen. Wir müssen Kitas, Schulen, Jugendeinrichtungen und Ämter verzahnen.

Klingt kompliziert...

...ist aber wichtig. Wir müssen beides tun: Kitas und Schulen personell stärken – und ihr zivilgesellschaftliches Umfeld stützen. Die Flüchtlingskinder können ja nicht nur in die Schule gehen. Die werden sicher auch Fußballspielen, im Chor mitsingen und bei der Freiwilligen Feuerwehr lernen, Brände zu löschen. Ja, es ist kompliziert. Aber es würde einfacher sein, würde man auf erprobte Praxis und funktionierende Netzwerke wie zum Beispiel bei Ganztagsschulen zurückgreifen.

Wobei genau benötigen Lehrer Hilfe?

Wie sollen sie sprachliche und kulturelle Barrieren überwinden? Und wie mit traumatisierten Kindern umgehen? Mit solchen Fragen ist eine Schule im Normalbetrieb schnell überfordert. Zum Beispiel: Kann, muss jede Schule einen Traumatherapeuten haben? Nein. Aber sie muss in der Lage sein zu erkennen, wann das Thema bei einem Kind zu brennen beginnt. Mit der bisherigen Ausstattung - ein Schulpsychologe für 6.000 bis 25.000 Schüler - geht das nicht.

Es hat noch bisher noch nie funktioniert, die Schulpsychologie zu stärken – keiner will das zahlen.

Weiß ich, aber diese Haltung ist mir viel zu resignativ. Wir haben eine Riesenchance, und zwar jetzt. Es ist doch ein wunderbares Gefühl zu sehen, mit welcher Herzlichkeit geflüchtete Menschen bei uns empfangen werden. Ob wir eine wirkliche Willkommenskultur beherrschen, wird sich daran zeigen, ob unsere Anstrengungen bis in die Schule reichen – da wird der Grundstein für Integration gelegt. Und dazu gehört dann eben, dass jede Schule einen festen, kurzfristig erreichbaren Schulpsychologen als Ansprechpartner hat.

Was sind Ihre Kriterien für gute Schulpolitik mit Flüchtlingen?

Ich finde, dass wir den Goldschatz, der gerade ankommt, noch gar nicht erkannt haben. Seit Jahren reden wir über den demografischen Wandel und sterbende Schulen. Es wird in immer neuen Zahlenspielen ausgerechnet, welche Folgen diese Ausdünnung in den Sozialsystemen langfristig hat. Und jetzt kommen 200.000, mittelfristig durch den Nachzug der Familien vielleicht 400.000 neue Schüler in die Schulen. Viele Leute tun gerade so, als seien das Eindringlinge, die wir nun auch noch durchfüttern müssten. Nein, die brauchen uns – und wir brauchen sie doch auch! Aber die Behörden verwalten den Mangel, anstatt dass sie jetzt mit einem Siebenmeilenschritt vorangehen.

Siebenmeilenstiefel, ist das nicht bisschen zu poetisch für die Not der Flüchtlingskinder?

Nein, denn ich meine das ganz real. Flüchtlinge mit Kindern kommen doch nicht erst seit gestern. Sie werden gut empfangen – aber die finanziellen und personellen Restriktionen von Schulen und Kitas treten jetzt immer deutlicher zu Tage. Engagement allein kann das nicht ausgleichen, auch wenn es viel bewirkt. Es ist wunderbar, wenn die Kitaleiterinnen die Übersetzerin für die Aufnahmegespräche selbst sucht. Wenn sie Mütter aus dem gleichen Land ausfindig macht und so das Problem gegenseitiger Sprachlosigkeit aufhebt. Es schafft Bindungen und Anerkennung, kostet aber auch viel Zeit.

Was brauchen die Geflüchteten?

Die Kinder brauchen zunächst das Gefühl von Sicherheit. Sie wünschen sich Normalität und wollen erst mal nur dazugehören. Das ist schon viel! Und sie wollen spielen! Es ist wichtig, den Kindern und Jugendlichen, die hier ankommen, eine eigene Stimme zu geben – etwa, indem sie ihre Fluchtgeschichte erzählen können. Vielleicht nicht gleich in fehlerfreiem Deutsch, aber mit einem Tanz- oder einem Filmprojekt. Genau an dieser Stelle besteht übrigens die Gefahr der Überforderung.

Wie kann denn die eigene Geschichte jemanden überfordern?

Wenn Kinder - zum Beispiel aus den Kriegsgebieten in Afghanistan, Syrien, Somalia oder dem Irak - ihre Biografien persönlich schildern, dann kann das traumatische Erlebnis wieder aufreißen. Das löst unter Umständen sehr heftige Reaktionen aus – mit denen Lehrer oder Erzieher im Alltag nicht mehr allein zurecht kommen.

Was bedeutet das für Schule ganz allgemein?

Wir müssen den Bildungsbegriff weiten – zum Beispiel in den Erwerb der deutschen Sprache auf unterschiedlichen Ebenen zu investieren, mit Sport und Tanz, Theater und Musik oder digitaler Bildung. Die Erzieher sollten an den Lebenswelten der Kinder anknüpfen und sie über ganz unterschiedliche Lernformen ansprechen. Das können zum Beispiel Verse, Abzählreime oder Zungenbrecher sein. Bei der Vermittlung der Sprache darf es aber nicht bleiben; es geht um die vollständige Integration, um Möglichkeiten der Teilhabe und um die Vermittlung unserer gewachsenen Normen und Werte, die der Kitt unseres gesellschaftlichen Zusammenhalts sind.

Das klingt nach einer Neuauflage des Dauerbrenners Leitkultur.

Wir brauchen einen zielführenden ehrlichen Diskurs, der uns zwischen „Multi-Kulti“ und „Parallelgesellschaft“ gemeinsam verortet. Das ist keine Kür, sondern unverzichtbar. Es ist eine Aufgabe, die nicht die Kommunen allein, kein Land allein, keine Bürgerstiftung allein stemmen kann, sondern bei der auch der Bund in der Pflicht ist.

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