Die Abiturkrise kommt nach Hause. Noch eine Woche haben Bayerns Bürger Zeit, die Verkürzung der Gymnasialzeit auf acht Jahre abzuwählen. Der Volksentscheid richtet sich gleich gegen zweierlei: Gegen eine unpädagogische und technokratische Verstümmelung der wichtigsten deutschen Schule, dem Gymnasium. Und gegen die Hauruck-Methode, mit der Bayerns damaliger Ministerpräsident Edmund Stoiber das verkürzte, sogenannte G8-Abitur durchgesetzt hatte. Als der schulpolitische Leithammel Bayern 2003 voranstürzte, löste das eine Kettenreaktion aus – und alle West-Länder (außer Rheinland-Pfalz) zogen nach. Der Osten des Landes hatte das Kurz-Abitur schon vorher eingeführt, ohne viel Tamtam.
Im Westen hat die Amputation des Gymnasiums eine schwere Schulkrise ausgelöst. Viele Jahre hat es gedauert, bis die Politik verstand, dass man den Lernstoff fürs Abi nicht einfach zeitlich quetschen kann. Die einzige Methode, mit der die Schulminister das Abitur reformieren wollten, war nämlich die Maßnahme Stauch & Press. Es gab keine didaktische Modernisierung, geschweige denn eine Entschlackung der Lehrpläne; die Verkürzung wurde nicht über die Gymnasialzeit insgesamt verteilt, sondern auf die Mittelstufe konzentriert; ja, es wurden nicht einmal Mensen gebaut, um den gestressten Gymnasiasten an 9-Stunden-Tagen wenigstens ein Mittagessen zu servieren. Kein Bauarbeiter hätte sich das bieten lassen – Schuften ohne Mittagspause. Die Gymnasiasten und ihre superschlauen Akademikereltern haben es jahrelang erlitten, bis sie merkten, dass da etwas schiefläuft. Mehr Lehrer, anderes Lernen, gezielte Unterstützung für die Turboabiturienten – davon war lange nichts zu sehen. Die Kultusminister entschieden „Abiturstoff bleibt Abiturstoff!“ und hielten an ihren Standards fest. Trotz und Rechthaberei dominieren eben immer noch die deutsche Schulpolitik.
Dennoch enthält die Rückkehr zum Abitur nach neun Jahren (G9) jetzt, ein Jahrzehnt nach dem G8-Turn, eine schwer auszuhaltende Paradoxie. Kein verantwortungsvoller Schulpolitiker kann behaupten, dass eine Rückkehr zu den alten Bedingungen möglich sein wird. Bildungsforscher, auch viele Lehrer warnen davor, erneut mit einem Ukas auf die Schulentwicklung einzuschlagen. Tatsächlich haben die Kultusminister inzwischen vieles am Abitur verändert. Die Lehrpläne wurden entrümpelt, viele Gymnasien zu Ganztagsschulen mit echten Mensen umgewandelt. Es tut sich was. Aber das heißt auch: Das alte G9 ist tot. Eine Reanimation gibt es nicht.
Das neue G9 wird ein anderes sein als das alte – nur wird seine Einführung noch einmal zehn Jahre in Anspruch nehmen. Und die ersten Rückverstümmelungen zeigen bereits: „Die Mehrheit der Lehrkräfte hat ihre Unterrichtspraxis durch die Einführung von G9-neu nicht verändert.“ So steht es in einer Untersuchung jener Gymnasien, die bereits zum neunjährigen Abitur zurückgekehrt sind. Das, was das Abitur also am nötigsten hätte, eine pädagogische Öffnung für ganz andere und viel mehr Abiturienten als wir sie vor 15 Jahren hatten, die wird so nicht zu haben sein.
Tatsächlich hat sich in den Jahren, seit das Turboabitur beschlossen und durchgedrückt wurde, parallel eine andere Entwicklung zugetragen. Während die Schulpolitiker das Abitur rasierten, hat sich der Zugang zu den Gymnasien massiv ausgeweitet. Das Land hatte zu Beginn der nuller Jahre eine Abiturquote von etwa 35 Prozent eines Jahrgangs. Heute haben wir über 45 Prozent, in vielen Städten legt schon die Hälfte der Schüler die Hochschulreife ab, Tendenz steigend.
Das Abi ist ein Volkssport geworden. Es gehört bald allen Deutschen – und selbstverständlich den Zuwandererkindern, die massiv Richtung Abitur drängen. Aber dafür muss sich das Gymnasium radikal ändern. Denn ein Fünf-Prozent-Abitur, wie es zu Beginn der Bundesrepublik üblich war, muss eben ganz anders aussehen als an ein Abitur, das von 50 Prozent der Schüler absolviert wird. Didaktisch, inhaltlich und örtlich. Es wird immer weniger eine Sache der Gymnasien sein und immer mehr eine von Gesamt- und Gemeinschaftsschulen, die überall aus dem Boden sprießen. Es ist nur eine Frage der Zeit, dass auch die bayrischen Realschulen, die die besten im ganzen Land sind, zum Abitur greifen werden.
Die ersten Meldungen von den Wahlurnen in Bayern zeigen, dass die Volksabstimmung schleppend anläuft. Mitten im Sommer und bei einer Fußball-WM mag das Volk nicht gern zum Plebiszit gehen. Aber es muss sich niemand täuschen, wie entschlossen die Bürger sind, wenn es ums Abitur geht. Umfragen, aber auch qualitative Studien zeigen, dass die Hochschulreife der Deutschen liebstes Zeugnis ist. Die große Unzufriedenheit der Mittelschicht konzentriere sich auf das achtjährige Gymnasium, heißt es dort. Das bedeutet, die traditionellen Akademikereltern wollen ihr Gymnasium wieder haben. Und die neuen und alternativen Bildungsaufsteiger sind nicht minder entschlossen, sich die Lizenz zum Studium zu holen. Es wäre zu wünschen, dass ihr gemeinsamer Wille zu einer echten Reform des Abiturs führt. Dann wäre Stoibers Ukas von 2003 wenigstens zu etwas nütze gewesen.
Christian Füller bloggt auch unter pisaversteher.com
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