Das zentrale Ereignis in Marguerite Duras´ Roman Moderato Cantabile ist der Schrei: Während Anne, die reiche Fabrikantengattin, dem Klavierunterricht ihres Kindes lauscht, wird unten in der Kneipe eine Frau von ihrem Geliebten umgebracht, möglicherweise sogar auf ihren eigenen Wunsch hin. Der Ort des Verbrechens zieht Anne magisch an, sie beginnt Gespräche mit einem Unbekannten, in denen sich die Wirklichkeit langsam auflöst und die todessüchtige erotische Verklammerung sich zu wiederholen scheint.
Was ist ein Schrei? Der Schweizer Komponist Beat Furrer meint: ein Laut an der Grenze von Humanem und Animalischem, eine emotionale Entäußerung, die gleichwohl Bedeutung trägt, die also schwankt zwischen purem Ausdruck und Sprache. Daraus macht er eine Oper - oder vielmehr eine theatralische Klang-Skulptur, eine Drohkulisse, die 90 Minuten lang die Angst vor der Liebe beschwört und die Angst vor der Angst und die Sucht nach dem angeblich alles verschlingenden Sex.
Furrer nimmt zu Beginn einen langen Anlauf zu einem furiosen, berstenden, schreienden Knall und untersucht dann, umgeben vom Zischeln der beobachtenden Stimmen des Chores, den inneren Aufruhr der Hauptfigur: Geräusch-Musik. Es gibt, ähnlich wie bei John Cage oder Luigi Nono, keine einzige Melodie in diesem Stück, nur Flageolets und Glissandi in den Geigen, gedämpftes Reiben und Klacken bei der Percussion, Knarren, Fauchen und Schmettern bei den Bläsern, Crescendi und Decrescendi, Klänge und Risse. Musiker, die ihre Instrumente nicht spielen dürfen, die sich selbst frustrieren. Sprechende Stille, brüllendes Vakuum.
Da sind wir also, in der Nachmoderne: Es ist absolut faszinierend zuzuhören, wie Beat Furrer die menschliche Emotion in einzelne Geräusche zerlegt, Worte auslotet, die Eiswüsten der Depression zum Klingen bringt. Da ein Flirren, ein leises Kreischen, ein Zirpen, bisweilen ein Klavierton. Aber manchmal denkt man sich: So eine Mozart-Oper ist auch nichts Schlechtes.
Vor allem aber stellt sich die Frage, ob Furrer den überaus dunklen, elegischen Duras-Text überhaupt als Vorlage benutzt hat oder ob ihm die Anfangsszene des Romans nur Vorwand für eine eigene akustische Versuchsanordnung war. Ehrlicherweise nennt er seine Oper Invocation, "Anrufung" also - aber es wird weniger der Duras-Roman angerufen als vielmehr ein sehr heutiges, existentielles Gefühl von Verlassenheit. Bei Duras und mehr noch bei Peter Brook, der 1960 aus ihrem nouveau roman einen schwarzen, bewegungslosen Film gemacht hat (mit einer ganz in sich zurückgesunkenen Jeanne Moreau in der Hauptrolle), geht es noch um die Unmöglichkeit der Liebe, wie sie sich aus der Position der frustrierten Bürgersgattin herleitet. Wie die romanlesenden Damen, die romantisch-naiven, sehnsuchtvollen Emma Bovarys im 19. Jahrhundert keine dauerhafte Befriedigung in den Armen feuriger, aber unzuverlässiger Liebhaber finden konnten, so kann die Fabrikantengattin Anne Desbaresdes den anziehenden und geheimnisvollen, offensichtlich aber arbeitslosen Proleten in seiner traurigen Kneipe nicht erreichen. Die lakonisch beschreibende Duras gestattet ihr noch nicht einmal die körperlichen Vergnügungen der Bovary - zu stark ist der Druck der beobachtenden Konventionalisten und Kneipengäste im Nachkriegsfrankreich, aber auch der innere Druck. Der melancholische Peter Brook erlaubt seiner Protagonistin immerhin ein graues, bewegendes, existentielles Sehnen - Liebe ist schön wie der Tod und unheimlich aussichtslos.
Bei Furrer: nichts davon. Sein Personal hat sich in der Eiseseinsamkeit schon traulich eingerichtet. Da will keiner mehr zum anderen kommen - es geht sowieso nicht. Stattdessen spielt Furrer mit genetisch vervielfachten Persönlichkeiten. Er hat die Protagonistin Anne in drei Figuren aufgesplittet: Die Sopranistin Alexandra von der Weth presst sich Laute aus dem Leib, die man als unterdrücktes Singen kennzeichnen könnte, die Schauspielerin Olivia Grigolli spricht - oft mit mechanischem Stakkato - Teile des hochdepressiven Duras-Textes, und die Flötistin Maria Goldschmidt erzählt uns vor allem mit ihrem (mikrophonverstärkten) Atem das große Klagelied vom Wind und von der Kälte.
Das ist natürlich auch ein bisschen Pose, ganz so schlecht geht es uns nicht in Mitteleuropa, und auch in der Banker-Metropole Zürich soll es sich für Fabrikantengattinnen bisweilen ganz angenehm leben lassen. Manchmal bebildert Beat Furrer nur musikalisch seinen Text - ebenso wie der regieführende Christoph Marthaler, der aber, deutlich erleichtert über das Nahen seiner letzten Spielzeit als Intendant, ungewohnt übersichtlich choreographiert:
Die Personen bewegen sich insektengleich und zeitlupenartig auf einer Promenade am Meer, der Chor, die böse bürgerliche Gesellschaft, trägt Tanzstunden-Turmfrisuren und Angestellten-Anzüge und hält sich immer eine Stimmgabel ans Ohr. Wär´ ja ganz schön, mal ein reines A zu hören. Immer wieder lässt die Bühnenbildnerin Bettina Meyer ein kleines Haus über die Szene und durch die brav arrangierten Personengruppen hindurchfahren, der sichere Hort, aus dem die bisweilen sich veitstanzartig windende Protagonistin hinausfällt in ein klinisches, langsames, sexualisiertes Sterben.
Während die dreigespaltene Hauptfigur sich immer mehr in ihr Leid, in die Abgründe der Einzeltöne hineingräbt, die Worte und Laute auslotet, darf der Chor auch mal flippen und in spitze Lustschreie ausbrechen. Wie schön! Vor allem aber teilt der Chor uns plakathaft jene traurigen Botschaften mit, die Furrer aus dem Duras-Text erst hätte herauskitzeln, herauskomponieren müssen. Furrer benutzt dazu ein paar andere Texte der Weltliteratur, darunter tut man´s nicht in der E-Musik: Cesare Paveses Tu sei la vita e la morte (Du bist der Tod und das Leben); das zwölfte Buch aus Ovids Metamorphosen, das von der "Fama" handelt, also vom bösen Gerücht, das hier die Liebenden einengt und die Gefühle erdrückt. Und die orphische Hymne, die den Dionysos feiert, den dreifach geborenen bakchischen Herrn. Da kann man dann auch als Neu- oder Nichttöner einen drauflegen.
Aber seltsam: auch das bleibt statisch, wie auf der Stelle scharrend. Während bei Marguerite Duras noch eine sanfte Sprachmelodie durch den Text zieht, während bei Peter Brook die Klavierzeile der Diabelli-Sonate noch zart durch die triste Welt weht, gibt es bei Beat Furrer nur den einen Ton, den Schrei, der quasi physikalisch und nach allen Regeln der Nachmoderne durchgeknetet, analysiert und in seinen Variationen hinuntergebetet wird.
Immerhin flackert auch ein Licht in soviel Finsternis: Robert Hunger-Bühler spielt den Mann, zu dem die nach Liebe hungernde Fabrikantengattin Anne nicht kommen kann. Hunger-Bühler ist ein Clochard, der mit Weißbrot auf der Parkbank campiert, der im Regenmantel einschläft und dem die ganze Weltuntergangsgeschichte ein bißchen egal ist. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, hier Christoph Marthalers Alter Ego zu erkennen. Befreit von der Last, als Intendant unbedingt weitermachen zu müssen, wird Marthaler eine lockere letzte Spielzeit hinlegen. Der obdachlose Träumer war auf dem Chefsessel eher eine Fehlbesetzung. Jetzt kann er wieder inszenieren - und die Zürcher werden ihm schon ein paar Kränze flechten, auch wenn er am Schluss ein großes Defizit hinterlässt.
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