Er gilt als naiver Maler, und in der Tat malte er wie ein begabtes Kind, minutiös und staunend, sehr bunt und sehr detailgenau, und seine scheinbar ganz realistischen Darstellungen waren doch pure Phantasiebilder. Bei Henri Rousseau gibt es Löwen, die in einem üppig ausgedachten Urwald weinende Antilopen töten und dabei zärtlich auf ihrem Opfer ruhen (das ist die großformatige Abteilung Exotik und Abenteuer); es gibt aber auch die "Repräsentanten der auswärtigen Mächte", die sich zu einem vom Maler erträumten Gruppenbild der Völkerverständigung zusammenfinden. Der italienische König ist proportional zwar nur zwei Drittel so groß wie der deutsche Kaiser, aber das macht nichts, denn alle, alle scheinen zu schweben.
Der Zöllner Henri Rousseau hatte Probleme mit der Bodenhaftung. Bei seinen Bildern weiß man nie so genau: meint der das ernst, oder ist es Ironie? Ist er naiv, oder tut er nur so? Die Künstlerkollegen Picasso, Beckmann und Kandinsky waren sich da wohl auch unsicher. Aber sie suchten zu Beginn des Jahrhunderts den Kontakt zu dem Autodidakten, bei dem sie jene Formalismen und Archaismen entdeckten, mit denen sie auch selber gerade experimentierten. Sie haben sich über ihn natürlich auch lustig gemacht: Genialität und Platitüde lagem bei diesem ganz intuitiv arbeitenden Pariser Kleinbürger nah beieinander. Denn Rousseau war zwar in seiner Farbgebung bisweilen virtuos (vor allem die Palette seiner Grüntöne ist betörend schön), aber er hatte von perspektivischem Zeichnen keine Ahnung: er hatte es eben nie gelernt.
Die "Modernen" fanden bei Rousseau also quasi naturgegeben ein Stilmittel, das sie selbst sich nach ihrer akademischen Ausbildung erst künstlich wiederbeschaffen mussten: die Auflösung der Zentralperspektive. Rousseau dachte in Flächen, wie die Maler des frühen Mittelalters; es gibt bei ihm keine fliehenden Linien, keinen Raum, sondern nur, was auch mit der Décadence des ausgehenden Jahrhunderts zusammenhängen mag, Perspektiv-losigkeit, Raum-losigkeit, in der sich verschiedene Flächen zu einem neuen, infantil-unwirklichen Raum zusammensetzen.
Das hat Picasso natürlich interessiert, als er Bilder von Rousseau beim Trödler erwarb. Er sah bei ihm die Primitivität prähistorischer Höhlenmalereien und die brachialen Formen afrikanischer Stammeskunst, die für den frühen Kubismus so wichtig werden sollten. Und schaut man die von Henri Rousseau gefertigten Portraits genau an, so entdeckt man auch dort Ansätze jener Flächigkeit, die ein Gesicht brechen und neu komponieren.
Dass Rousseaus Bilder komponiert sind, ist kaum zu bestreiten. Das unterscheidet ihn von den Sonntagsmalern. Aber es ist auch ein kindliches Gemüt, das ihm den Pinsel führt. Sein Glaube an die Kunst ist groß und die Wahl der Themen skurril: er verewigte Hühnerhöfe und Volkstänzer, er malte allegorisch "die Freiheit" als magersüchtigen schwebenden Engel über dem Salon der "unabhängigen Künstler" 1905; ein Kind mit Hampelmann in der Hand wirkt bei ihm wie eine (keineswegs ironisch gemeinte!) Paraphrase der Justitia mit Waage; fortschrittsgläubig wird die Technik gefeiert, Zeppeline und Telegrafenmasten werden zu Protagonisten in Bildern, die ansonsten eine eher trübe Landschaft zeigen.
Der Tübinger Kunsthallen-Chef Götz Adriani hat vor allem diese Landschaftsbilder mit den Werken der modernen Nachfahren konfrontiert; neben Rousseaus "Frühlingslandschaft an den Ufern der Bièvre bei Bicêtre", in der die Baumkronen wie winkende Schlinggewächse und die Parkwege wie Teppiche aufgefasst sind, hängt Fernand Légers "Mann mit Hund", der genau diese Strukturelemente ins Abstrakte variiert. Neben Rousseaus "Ansicht von Malakoff" mit den Telegrafenmasten (von 1908) hängt Kandinskys "Eisenbahn bei Murnau" von 1909, mit einer identischen Bildaufteilung. Neben Rousseaus Blick auf den Quai d'Ivry steht Robert Delaunays "Luftschiff und Turm", eine Hommage an den Eiffelturm.
Es ist viel Natur in diesen Bildern und viel kindliche Nettigkeit - das mag den Erfolg der Ausstellung garantieren, die vom Autobauer DaimlerChrysler gesponsert wird. Dass der Rüstungskonzern (und Umweltverschmutzer) eine Ausstellung präsentiert, die die Sehnsucht des Publikums nach unversehrter Natur populär bedient, das gehört zu den Widersprüchen, die heute klaglos hingenommen werden. Adriani freut sich über seine Ausstellung und das Sichtbarmachen kunsthistorischer Traditionslinien, Daimler-Chrysler freut sich über die kostenlose Werbung (denn das sogenannte Sponsoring besteht bei näherem Hinsehen lediglich in der Übernahme einer Ausfallbürgschaft - aber ein Minus wird diese Bilderschau sicher nicht erwirtschaften), und das Publikum ist zufrieden in Rousseaus harmonischen Welten: je unwirklicher, desto besser. Die von Rousseau dargebotenen Gräser und Bäume nämlich sind den Botanikern zumeist unbekannt, sie sind pure Erfindung.
Es gibt bei Rousseau diesen horror vacui: kaum eine Stelle darf leer bleiben, besonders die Urwaldbilder sind mit Material vollgestellt. Wild wuchern die Gräser, und Schlingpflanzen strecken sich wie Frauenarme. Aber das Bedrohliche des Urwalds wird stets banal dargestellt und so uminterpretiert in einen freundlich-skurrilen Innenraum. Löwen sind nur Dekoration. Die Waldlandschaften, in denen die zarten Liebenden verschwinden, wirken bei Rousseau wie ein Hohn, wie eine Kindergarten-Persiflage auf die Stimmungsmaler von Barbizon. Und oben steht, im Vorgriff auf Margritte und im Rückgriff auf die Klischees der Kindheit, bisweilen ein bleicher Mond oder eine glühende Abendsonne.
Das allein wär nicht genug. Es gibt noch einen zweiten Trick, und auch hier ist unsicher, ob das bewusst eingesetzt ist oder nicht: Rousseau breitet diese leise Traurigkeit, diesen melancholischen Firnis über seine Parks und Puppenstuben. Es gibt keine Aktion in diesen Bildern, nur Statik, Stillstand, Kontemplation. Diese Stimmung teilt er bis in die Details mit einem Zeitgenossen, mit dem Komponisten Erik Satie - auch der zuerst von vielen verlacht und dann gefeiert; ein Impressionist, in der Reduktion des Materials aber ein Vorläufer der Minimalmusik.
Auch Rousseau reduziert die Wirklichkeit nach seinem Gusto: seine Bilder entführen uns in ein Kinderland. Sie erinnern uns an das, was wir verloren haben, an eine Zeit, in der die Welt überschaubar schien. Der Urwald ist bei Rousseau ein botanischer Garten Eden, ein Gewächshaus, ein Fin-de-Siècle-Wintergarten, und der hungrige Löwe bedroht uns nicht. Die Politiker und Monarchen sind Attrappen, sie werden uns nichts tun.
Henri Rousseau war auf sympathische Weise weltfremd. Aber vielleicht werden die Möglichkeiten der Welt kenntlicher, wenn sie von einem Fremden betrachtet werden.
Henri Rousseau. Der Zöllner - Grenzgänger zur Moderne. Kunsthalle Tübingen, bis 17. Juni. Katalog 39 DM.
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