Aus drei Stücken besteht die Orestie, drei Bühnenbilder hat Barbara Ehnes gebaut: Agamemnons Heimkehr in die Familie wird ganz streng und sprachzentriert auf einer schiefen Ebene zelebriert, in die die politische Welt als Scheibe hineingeschnitten ist, als Sonnendach. Wie seltsame Raubvögel sitzen Klytemnestra und Ägisth auf einer Schräge, auf ihrer Hühnerleiter, während Kriegsheld Agamemnon kukident-grinsend auf dem Penthouse-Balkon seine Kreise dreht; offenbar wähnt er sich im Oval Office. Da wird man gern von Frauen angegangen oder auch abgestochen, und sei´s von der Ehefrau.
Die Rache des Orest an seiner Mutter findet dann in einer Art Hollywood-Kindergarten statt, Golf-Rasen, als wolle man den Ball des Schicksals einputten, Swimming-Pool, Affenfelsen, verglaste Wohnzimmerfront, hinten ein Schlachthaus, auf das Regisseur Stefan Pucher seine Filme vom inzestuösen Gemetzel projiziert: die Wohlstandskinder proben den Aufstand.
Drittens: die Verhandlung gegen Orest vor einem US-Gerichtshof, leerer Saal, die Geschworenen tragen seltsame Cowboyhüte und wirken, als seien sie selbst gerade aus dem Knast entlassen. "In Gods we trust": Orest zappelt schon zu Beginn der Vernehmung wie unter Strom auf dem elektrischen Stuhl herum, und wenn die Erinnyen ihre Anklage erheben, dann erklingt infernalischer Heavy-Metal-Lärm.
So sieht er aus, der Klassiker-Pop, den das deutsche und mittlerweile auch das Schweizer Stadttheater für Schulklassen, Studenten und andere Klientel der sogenannten Wissensgesellschaft veranstaltet: pflegeleicht ins Hier und Jetzt geholt, in überschaubare Entertainment-Formate übersetzt, mit einer simplen Moral ausgestattet.
Schon zu Beginn hatten zwei eifrige Moderatoren das Publikum gewarnt: der "große Trojateller" beim Griechen sei viel zu deftig, man möge mit Stefan Puchers kleiner Salatplatte vorliebnehmen. Solche Albernheiten müssen offenbar sein, um auch den Züricher Bildungsbürger auf eine Marathon-Sitzung neudeutscher Aischylos-Exegese einzustimmen.
Die Erinnyen also: schwarze Punkrockladies sind das, die für Klytemnestras Geisterschatten den Soundtrack legen, gruftige Grunge-Weiber, die die feministische Sache hochhalten und sich mit Schiedsrichterin Athene anlegen, deren Integrität bei Pucher schon dadurch in Frage gestellt wird, dass sie einen weißen Mafia-Nadelstreifenanzug trägt. Bei argumentativer Unsicherheit setzt sie sich dann eine Indianerhaube auf und zeigt guten Willen.
Die Figuren sind schon durch ihre Kleidung hinreichend definiert, und auch sprachlich ist es Puchers kindliche Sucht nach Eindeutigkeit, die dem Stück im Verlauf dieser fünfeinhalb Stunden immer mehr eine knallbunte Folklore-Ästhetik aufstülpt, die die Peter-Stein-Übersetzung des Aischylos-Textes oft unerträglich banalisiert oder ins Pucherdeutsch weiterdichtet. "Wir sind die Guten, die anderen sind die Bösen", sagt der von der Regie auf einfältiges Bush-Format plattgebügelte Heimkehrer Agamemnon geradeheraus, um dann im Kleingedruckten zu erläutern: "Wir sind Mörder und Vergewaltiger". Dass Agamemnon nicht ganz freiwillig in den Krieg zog, ist Pucher entgangen. Aber für ihn ist klar, dass diese amerikanischen Griechen nicht aus Troja, sondern aus dem Irak heimkehren.
Das Reich des Bösen ist also ausgemacht - es besteht aus ledernackigen Zähnefletschern und aus Hollywood-Kitsch, aus Cowboyhüten und aus fettleibigen, von dem Bildhauer Duane Hanson abgeguckten Spießern und Touristen (Nicola Weisse und Peter Brombacher), die bei Pucher den Chor bilden und die Gesetze des Zeus (und des Marktes) rekapitulieren: durch Leiden lernen. Das gilt, in Maßen, auch fürs Publikum.
Denn das Verrückte ist, dass diese unendliche Versimpelung, dieses Hinunterbeamen der Orestie auf Simpsons-Format zumindest ästhetisch funktioniert. Aischylos, das Stück, seine Sprache, sein Konflikt sind stark genug. Der kommentierende Chor als geschmacklos gekleidetes Spießer-Paar im Fernsehsessel, das ist ein genialer Einfall. Und Pucher ist nicht nur ein kleines Kind, ein Spielkalb, sondern auch ein formbewusster Regisseur. Zwar werden wir bei ihm keine wirklichen Charaktere sehen - die Figuren werden zugedeckt, mit Videofilmen über die Brutalität der Welt. Mord kommt grundsätzlich nur auf Konserve vor. Ornamentales Theaterkino, Piscator 2000. Dazu wird unglaublich brav und statisch Text aufgesagt, damit man dann wieder unmotiviert in veitstanzartige Exaltationen verfallen kann.
Aber manchmal ergibt das immerhin einen Rhythmus. Und Pucher ist jemand, der auf dem schmalen Grat zwischen dem Erhabenen und dem Trivialen auch betörend frech agieren kann. Die laszive Kassandra der Rebecca Klingenberg, eröffnet dem Publikum freudig, bei den Züricher Banken würden demnächst zwanzigtausend Arbeitsplätze abgebaut. Das sind so die Wunschträume, die in Theaterkantinen keimen. Den Bin Laden werde man übrigens erst 2005 ergreifen, prophezeit uns die Seherin, und man ahnt, dass die Frau doch mehr mit der Bunten und dem Stern als mit Aischylos zu tun hat.
Folgerichtig sieht dann Orests Amme so aus wie Doris Day, Klytemnestras Liebhaber Ägisth, der ewige Ersatzmann, wie ein Kanarienvogel, die Klytemnestra der starken Olivia Grigolli wie eine Mischung aus früher Maria Callas und später Jackie Onassis. Der Rächer Orest (Sebastian Rudolph) agiert als schüchterner Rock´n´roll-Sheriff und später wie ein Werwolf; der Schatten des Agamemnon (Wolfram Koch) geistert zuerst als Steptänzer des Krieges und dann als hyperventilierender Dracula mit Beißmaske herum.
Es ist der amerikanische Film der fünfziger Jahre, der da geplündert wird. The American Nightmare, der Horrorfilm, das Melodram, die Klatschspalte, die Spießigkeit der Vorstadtsiedlung, die amerikanische Angst, die Kontrolle zu verlieren, privat, politisch und überhaupt. Der Horror und das Mittelmaß. Dieser (schwache) Mittelteil der Aufführung auf dem ekelgrünen Kunstrasen eines Einfamiliengartens ist auch ein Remake von Frank Castorfs Züricher Trauer muß Elektra tragen. Ist das O´Neill-Stück schon die Light-Version des Aischylos, so war die Züricher Castorf-Inszenierung der Versuch, die US-Gesellschaft verhaltenstheoretisch als Hühnerhaufen zu begreifen und ihr endgültig alle Tragik auszutreiben. So weit will Pucher nicht gehen: Er gießt nur ziemlich viel Pop-Soße über die geschwisterlichen Racheschwüre der Elektra und des Orest, die wie John John und Caroline Kennedy an Vaters Grab als Kinderpaar auftreten. Und zu Brian Wilson´s Good Vibrations1 und anderem Liedgut kann man ja so wunderbar Aischylos rezitieren ...
Hier zeigt sich Stefan Puchers Methode in ihrer ganzen Nacktheit: Zu den alten Pop-Hits vom Schicksal faseln, das Unvereinbare zusammennageln - das hat er mittlerweile zur Perfektion ausgebildet. Aber es bleibt dem Text äußerlich. Es ist symptomatisch, dass Regisseure der jüngeren Generation in der Antike immer nur das Martialische denunzieren oder aber das Lächerliche ausstellen, aber die Ambivalenzen der Figuren nicht aushalten können. "Dad" ist "dead" - na und? Ist der Vater nur durch diese Homonymie schon ein Todesgott, ein Thanatos? Für Pucher ist die Sache klar. Die Konflikte des Aischylos aber liegen viel tiefer: es geht um eine Frau, die sich durch Mord vom ungeliebten Gatten angeblich emanzipiert. Es geht um Orest, den Sohn, der die Mutter killt, weil sie ihm den Vater weggenommen hat. Es geht um Athene, die die Rachegöttinnen besänftigt und zu Schutzgeistern erhebt. Es geht um den Verzicht auf Vergeltung - und somit um die Grundlagen unserer Kultur.
Dahin kommt Pucher nicht. Zwar zieht er in einer fulminanten Schlusseinstellung - die als Gerichtsszene angelegt ist, aber eben nicht in die Gerichts-Soap abrutscht - noch mal Intensität und Tempo der Inszenierung stark an. Hier wird in einer Art Vollversammlungs-Kultur argumentativ gekämpft: wütende Erinnyen als Staatsanwälte, die sich nur widerwillig (und nicht wirklich) in ihre neue Rolle als Schutzgöttinnen Athens fügen; eine schmeichelnd moderierende Richterin Athene, ein bürgerlicher Apoll mit Uhrenkette als Anwalt des Mörders Orest.
Aber Regisseur Pucher will nicht dem Alten, dem Aischylos, dem emeritierten Zivilisationstheoretiker das letzte Wort lassen, er will es selber haben. Sein Schlusskapitel wirkt etwas fad: Mit ein paar Pollesch-Monologen wird altbekannte Kapitalismus-Verdammung betrieben - um dann die Sache der ermordeten Klytemnestra hochzuhalten. Sie werde missachtet vor allen anderen Toten.
Puchers feministische Parteinahme untergräbt den Schluss des Aischylos, der doch den Verzicht auf Rache empfahl. Ästhetisch, formal geht das auf, und szenisch ist vieles in dieser Aufführung schön gelöst. Vom Reflexionsniveau aber ist die Inszenierung erschreckend schwach, ein bunt geschminktes Skelett, dessen Einsichten weit hinter die des griechischen Theaters zurückfallen. Vielleicht sollte man Puchers eingespielte Videofilme doch etwas genauer anschauen: Da befindet sich der Zuschauer auf einmal hoch über New York, im Anflug auf die Zwillingstürme. Dort will man eigentlich nicht sein. Was hat Stefan Pucher da verloren?
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.