Im Magazin des Glücks

Spielwiese David Chipperfields Marbacher "Literaturmuseum der Moderne" als Bühnenraum für eine Geschichte des Denkens und der Phantasie

Von weitem sieht es zunächst wie ein minimalistisches Gerippe aus, das schützend einen Innenraum, einen Keller, ein Schatzkästlein umschließt. Sehr nüchtern, ganz lakonisch und geschäftsmäßig ist die Aura - die Präsentation von Literatur hat sehr viel mit klarer Organisation zu tun. Das jedenfalls ist die Botschaft des Londoner Architekten David Chipperfield, der in Marbach am Neckar das "Literaturmuseum der Moderne" in die linke Flanke des berühmten Hügels gerammt hat, auf dem frontal das klassizistische Pantheon des Schiller-Nationalmuseums und rechter Hand das modernistisch verschachtelte Deutsche Literaturarchiv stehen. Durch den liebevoll "LiMo" genannten langen Riegel wird das Gebäude-Ensemble nun zum Campus vervollständigt: In der Mitte liegt der Park mit dem Schiller-Denkmal, und wer genug Archivluft geatmet hat, der wird hier gerne wandeln.

Beim Näherkommen sieht man dann, dass es mit den Rippen, Stelzen oder gar Reißzähnen des Chipperfield-Gebäudes auch eine andere Bewandtnis haben könnte, dass es minimalistisch verschlankte Säulen, Propyläen, Kolonnaden sind und dass der Architekt auf griechische Tempel, auf die Akropolis anspielt, allerdings mit großer Bescheidenheit und englischem Understatement. Es ist die Vorhalle zum Heiligtum - man steht auf mehreren Terrassen und schaut in die durchaus liebliche schwäbische Landschaft, unten das kälteklamme Neckartal, in der Ferne der Schlot eines Kraftwerks, vor uns Wiesen, Obstbäume und Siedlungen mit Einfamilienhäusern, in denen wahrscheinlich nicht die Dichtkunst, sondern solide württembergische Bausparer leben.

Aber auch das ist eine gute Umgebung für ein Literaturmuseum: es liegt jenseits der großstädtischen Geschäftigkeit. Das eröffnet ganz neue Möglichkeiten, die Konzentration aufs Wesentliche nämlich. Chipperfield lässt mit einer strukturierten Glasfront viel Tageslicht in den oberen Stockwerk, wo neben dem Empfang auch ein Vortrags- und Veranstaltungssaal untergebracht sind. Dann geht es hinab in die Ausstellungsräume - mit einem abrupten Stimmungswechsel ins Dunkle, ins Schattenreich. Das Hauptproblem für den Architekten bestand nämlich darin, in diesem weiten, leeren, großzügigen Gebäude Räume zu schaffen, in denen das Kunstlicht regiert - ohne dem Publikum das Gefühl zu vermitteln, man betrete nun eine Art Grabkammer der Gegenwartsliteratur. Aber Manuskripte sind nun einmal empfindlich und bei 55 Lux die Räume mehr als dämmrig.

Chipperfield hat sich für eine ungewöhnliche Lösung entschieden: das Gebäude ist in hellem Sichtbeton gehalten, die Ausstellungsräume im Unterstock aber sind gänzlich mit einem warmen brasilianischen Urwaldholz ausgekleidet; die Atmosphäre, die dabei entsteht, soll an die Intimität einer Bibliothek erinnern. Ob das wirklich gelungen ist, wird man erst beurteilen können, wenn die Räume bespielt werden und adäquat beleuchtet sind - die Museumsleiterin Heike Gfrereis favorisiert die bewährt bescheidenen, fast kirchlichen Marbacher Präsentationsformen mit Vitrinen und Punktstrahlern. Ihr Programm allerdings hat es in sich: im Juni wird die Dauerausstellung der modernen Literatur eröffnet; es folgen eine Tagung zu Carl Schmitt mit unediertem Material, im Juli eine Lese-Ausstellung zu Gottfried Benns "Doppelleben" und im November "Fotografien deutscher Dichter". Gegenwartsautoren werden Exponate beschreiben und zu einem umfangreiche Katalog der ständigen Ausstellung beitragen; Autoren werden auch ganze Ausstellungen bestreiten. Das heißt: der Autor als sein eigener Kurator, als Arrangeur eigenen und fremden Materials wird hier eine ganz neue Spielwiese vorfinden - jenseits von Verlagspolitik und Betrieb.

Das Publikum, das nicht nur aus Wissenschaftlern, sondern vor allem auch aus Schulklassen und Studenten bestehen wird, hat hier die Chance, einen Seiteneingang zur Literatur zu finden. Ob man Literatur überhaupt "zeigen" kann, das ist ja sehr die Frage. Lesen und imaginieren muss schon jeder für sich allein. Das Umfeld von Literatur, ihre Entstehungsbedingungen und Zeitbezüge, verschiedene Arbeits- und Rezeptionsphasen: das allerdings kann man präsentieren, und der Leiter des Deutschen Literaturarchivs, der Ideenhistoriker und Foucault-Übersetzer Ulrich Raulff, betrachtet dieses Museum ganz offensiv als "Schaufenster des Archivs". Er will dort Handschriften und Texte zugänglich machen, die sonst nur der Spezialist einsehen darf - und dadurch auch zu eigener Recherche anregen.

Philologische Arbeit nämlich findet in Marbach seit etwa hundert Jahren statt. Es ist angesichts der Eröffnung des "LiMo" sinnvoll sich zu vergegenwärtigen, auf welchem Boden dieses Gebäude, auf welcher Geschichte es steht. Letztlich war der Schiller-Kult der Motor für die Gründung des Literaturarchivs: 1903 baute der Schwäbische Schillerverein das Schillermuseum als eine Art Panthéon für seinen Helden, ein Archiv wurde gleich angeschlossen. Dort lagerte ein Teil des Nachlasses von Eduard Mörike, und mit der Zeit erweiterte man die Sammeltätigkeit auf die gesamte deutschsprachige Literatur seit etwa 1750. Entscheidend ist dann die Übergabe des Cotta-Archivs durch die Verleger der Stuttgarter Zeitung an das Schiller-Nationalmuseum 1952: mit einem Schlag besaß Marbach das größte Verlagsarchiv des 19. Jahrhunderts, und das heißt: Honorarbücher und Druckvorlagen, Briefe, Anstrichexemplare und Manuskripte von Goethe, Schiller, Hölderlin, Herder, Fichte, Schelling, Humboldt, Hebel, Kleist, Uhland, Kerner, Lenau.

Das 1955 gegründete Deutsche Literaturarchiv erschloss dieses Material und machte erstmals 1960 mit einer großen Expressionismus-Ausstellung von sich reden. Das war nun ein ganz anderes Feld: die Moderne. Mit der Zeit hatte sich nämlich der Schwerpunkt der Marbacher Arbeit immer weiter in Richtung 20. Jahrhundert und vor allem der Gegenwartsliteratur verschoben. Beschäftigte man sich zunächst mit Expressionismus und Exilliteratur, so pflegt man heute Umgang vor allem mit lebenden Autoren. Das auf 1200 Nachlässe angewachsene Handschriften-Archiv wird durch sogenannte "Vorlässe" ergänzt: den Anfang machte in den siebziger Jahren Alfred Andersch; als der Geld für eine medizinische Behandlung brauchte, gab er einen Großteil seines Werks als Vorlass nach Marbach. Und so sind heute bereits weite Teile der Tagebücher und Notizen von Peter Rühmkorf und Sarah Kirsch in den berühmten grünen Marbacher Kästen abgelegt und der Forschung zugänglich.

Um das Marbacher Spektrum zu verdeutlichen: 1988 kaufte man bei einer Sotheby´s-Auktion Kafkas Proceß-Manuskript; andererseits scheut man sich nicht, den Nachlass des Nazi-Literaten Will Vesper zu archivieren - gerade diese Literatur der dreißiger und vierziger Jahre ist noch zu wenig erschlossen. Aber auch philosophische Nachlässe - etwa von Heidegger, Jaspers oder Gadamer - oder sozialhistorische - von Nobert Elias und Siegfried Kracauer - lagern in Marbach.

Steigt man dann hinunter in den Bauch der Marbacher Archive, so werden einem Goethe-Handschriften und Verlagsprospekte, Goethes Federmesser und F. C. Delius´ erster Apple-Computer, Erstausgaben und Dichter-Totenmasken, Schiller-Locken, Schiller-Porträts und Thomas-Mann-Büsten vorgeführt. Zu den Kuriosa gehören auch die in Maroquin-Leder gebundenen Schuber, in welche der - offenbar von sich selbst besessene - Ernst Jünger als Besatzungsoffizier 1943 in Paris seine Tagebücher verstaute. Später lagerte der Herr seine Tagebuch-Schatzkistlein in einem Stahltresor der Kreissparkasse Riedlingen.

Den Menschen, die diese Institution betreiben, macht ihre Arbeit offenkundig Spaß, und die Direktoren residieren lange: Bernhard Zeller 32, Ulrich Ott 20 Jahre. Der seit 2004 amtierende Ulrich Raulff hat das Spektrum des Archivs noch einmal in Richtung Philosophie, Geschichtswissenschaft, Geistesgeschichte erweitert, und er will verstärkt mit Lesungen und Diskussionen in den Kulturbetrieb eingreifen. Und eben mit David Chipperfields strengsachlichem "LiMo", das ein ganz heterogenes Publikum anziehen und bedienen soll, und das eine Fundgrube auch für den Kundigen und den Schreibenden werden wird, ein Magazin des Glücks, ein Schwäbischer Parnaß. Denn: was man im LiMo einmal auszugsweise gesichtet hat, das kann man nebenan, im Literaturarchiv, gleich in extenso einsehen. Dem Fortschritt der Geisteswissenschaften steht dann fast nichts mehr im Wege ...


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