Kontrapunkt

TÜBINGER RETROSPEKTIVE Der jüdische Architekt Erich Mendelsohn

Dynamik und Funktion" heißt die Ausstellung, und einen treffenderen Titel kann man für die Bauten des Erich Mendelsohn kaum finden. Großzügig sind sie, voller Kraft, Klarheit, Schwung und Optimismus. Manche sind verschwunden, wie das wunderbare Stuttgarter Kaufhaus Schocken mit seiner in die Nacht leuchtenden, gläsernen Treppenhausrundung - 1960 wurde es im Zuge der Innenstadtrasur abgerissen. Von anderen Mendelsohn-Bauten gibt es nur noch die Fassade - bestes Beispiel: das frühere Berliner Universum-Kino am Ku'damm. In der Zwischenkriegszeit bot dieser Kulturpalast Platz für 1.800 Zuschauer, 1978 wurde er innen völlig ausgebeint - jetzt spielt dort die Schaubühne, in erheblich kleineren Sälen.

Erich Mendelsohn eröffnete nach dem Ersten Weltkrieg - er war 31 Jahre alt - in Berlin ein Architekturbüro. Nach expressionistischen Anfängen (der Potsdamer Einstein-Turm ist von ihm) setzte er sich kritisch mit dem Bauhaus auseinander; die alte, historische Bauweise war ihm ein Gräuel, und trotzdem wollte er die Ästhetik eines Gebäudes nicht völlig der Funktion unterordnen. Er versuchte also, eine Gegenposition zu Le Corbusier zu finden, der ein Haus als "Wohnmaschine" bezeichnet hatte.

Für Mendelsohn begann das Bauen auf dem Skizzenpapier: er war zunächst mehr Zeichner, Maler, Kostümentwerfer, bildender Künstler als Architekt. Tagebuchartig warf er Eindrücke auf den Block, sogar während seiner Soldatenzeit im Ersten Weltkrieg; er versuchte Bewegungen nachzuvollziehen, die innere Dynamik von Bauten nachzuempfinden. Und in diesen oft nur zettelgroßen Skizzen ist schon jene Entschiedenheit und Kraft zu erkennen, die dann auch den Bauten eigentümlich ist. Später zeichnete er am Strand; die sich verändernden Gestalten des Sandes und der Dünen begeisterten ihn. Er hörte Musik (seine Frau war Cellistin) und setzte sie in Raum um. Bisweilen zeichnete er - zur Irritation des übrigen Publikums - sogar als Zuhörer im Konzert.

Die architektonischen Ergebnisse waren überwältigend: Warenhäuser, Flugzeughangars, Fabriken, Krankenhäuser - Aufgaben der Moderne, für die man erst einen Stil finden musste. Mendelsohns Lösung war der Kontrapunkt. Er setzte gerundete, ausladende gläserne Elemente an funktionalistische Grundrisse, so dass seine Warenhäuser wie riesige Ozeandampfer wirken, das Haus Mosse in Berlin, Schocken in Stuttgart. Mendelsohn hasste Reklameschilder - das Haus selbst sollte für sich werben; die Menschen sollte man sich darin bewegen sehen.

Die Tübinger Ausstellung stellt nun diese Bauten im Maßstab 1:100 oder 1:200 nach, kleine Meisterwerke der Modellbaukunst, die mit klug ausgewählten Materialien einen plastischen Eindruck von Mendelsohns Kunst geben. Hier wird also nicht, wie bei der Modelleisenbahn, Wirklichkeit kopiert, sondern hier wird Architektur sichtbar gemacht, ein Raum-Entwurf gezeigt. Und es wird eben auch auf die Umgebung verwiesen: Mendelsohn hat bis in den Einstrahlungswinkel der Sonne für ein spezielles Grundstück gebaut, für eine städtebauliche Achse gedacht, für ein bestimmtes Klima konstruiert, später dann, als er in Palästina war.

Denn die Ausstellung erzählt auch Zeitgeschichte. Der Jude Mendelsohn musste Deutschland 1933 verlassen, er baute in England, Palästina und Amerika, und die vielgereiste Kuratorin Regina Stephan will unseren Blick nun weiten auf das, was der Exilant Mendelsohn im Ausland geleistet hat. In der Altstadt von Jerusalem hat er kleiner gebaut, mit durchlässigerem Material, mit arabischen Elementen und Pergolas. Er hat Synagogen gebaut und Wohnhäuser, Universitäten, Vergnügungsparks und großzügige Villen - am gelungensten das Russel-Haus in San Francisco, hart an einer Kuppe gelegen, mit Blick auf die Bay und die Golden Gate Bridge, mit einem Glaserker als zentralem Fenster, das in dieses Panorama hineinragt.

Es liegt ein Bedürfnis nach Versöhnung in solchen Bauten, politisch wie ästhetisch, und vielleicht trägt diese Ausstellung dazu bei, die jahrelang durchs Ausland wandern, nach Tübingen zuerst in Tel Aviv und dann in Jerusalem gezeigt werden wird. Dort, in der immer noch geteilten Stadt, steht das von Mendelsohn gebaute Hadassah-Krankenhaus, die Uni-Klinik, strenge, funktionalistische, aber locker geordnete Blöcke mit vertikalen Fensterschlitzen, Öffnungen wie Schießscharten, ein liberaler Verteidigungswall. Ganz am Ende der riesigen Anlage gibt es einen kleinen Rundbau, die Totenkapelle. Man schaut von dort in unwirtliches, heißes Land, in eine weite, ebene Wüste - Vermächtnis eines deutschen Architekten, der in Berlin nicht bleiben konnte.

Kunsthalle Tübingen, bis 2. April 2000. Katalog: 59,- DM

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