Postmortaler Hilfeschrei

TOTENMESSE Martin Kusej inszeniert Sarah Kanes »Gesäubert« am Staatstheater Stuttgart

Das Stück von Sarah Kane spielt »hinter dem Maschendrahtzaun einer Universität«. Das Stück, das Martin Kusej in Stuttgart inszeniert, spielt in einer Art KZ-Hölle. Auch schön. In der Hölle erlebt man mehr als an der Uni, normalerweise. In der Hölle sind alle Gefühle riesengroß und alle Probleme unlösbar, was sich auf dem Theater immer gut macht. In Kusejs Hölle gibt es tolle Geisterbahn-Soundtracks und Lichtblitze, Kettensägen kreischen, Blut spritzt, Menschen röcheln. Alle schreien nach Liebe, doch, welch Überraschung, der Schrei wird nicht erhört. Wenn man dann noch ein bißchen vom »Theater der Grausamkeit« raunt, ist auch der letzte Zuschauer schwer beeindruckt.

Sarah Kane hat sich am 20. Februar dieses Jahres umgebracht. Ihre Privathölle bestand aus Depression, Wahngedanken, Selbsthaß und der Erfahrung der Psychiatrie als totaler Anstalt. Kusej macht das zum Ausgangspunkt seiner Inszenierung: gleich zu Beginn läßt er die durch Selbstmord geendete Autorin puppenartig vom Bühnenhimmel baumeln. Statt das Stück auf seine Wirklichkeit hin zu befragen, liest er eine heilige Messe für Sarah Kane.

Er tut der Autorin damit keinen Gefallen. Je mehr er nämlich die Figuren als Horrorkabinett stilisiert, desto deutlicher zeigt sich, daß gar kein Stück da ist, sondern nur aufgereihte Gewalt- und Angstphantasien einer geschundenen Seele, eines kleinen englischen Mädchens, das das »Liebe oder töte mich« zum Prinzip erhoben hatte. In der Welt der Sarah Kane werden Zungen abgeschnitten und Füße amputiert, Geschlechtsteile abgetrennt und anderswo angenäht, wird die Liebe stets als Totalitätsanspruch vorgetragen und dann von einem bösen Übermenschen namens Tinker zunichte gemacht, kleingehackt, weggeätzt. Die Welt wird fanatisch Gesäubert (so der Titel) - von jeder Gefühlsregung.

Tinker ist eine Art KZ-Mengele der universitären Anstalt, ein Büchnerscher Versuchs-Doktor mit Sado-Appeal. Samuel Weiss spielt ihn zurückhaltend wie einen Begräbnisunternehmer, ein bißchen Dealer, ein bißchen Ingenieur des Todes. Tinker setzt seinen Patienten Heroin-Spritzen in den Augenwinkel und spießt verzweifelte Schwule auf einen Pfahl, er führt Geschlechtsumwandlungen durch und wird dann selber ein Opfer der Liebe, die ihn zum armseligen Onanisten vor einer Peep-Show-Tänzerin macht.

Die Stuttgarter Schauspieler bewältigen diese zwanghaften Rituale, diese ja auch theatralisch verstümmelten Szenen mit einem Mut, der an Selbstkasteiung grenzt. Marcus Calvin und Hüseyin Cirpici spielen ein schwules Paar, Calvin den gebeutelten Underdog, Cirpici eine aalglatte Freddie-Mercury-Figur. Fast sakral der Kleidertausch, den Christian Brey und Irene Kugler angstzitternd zelebrieren - immer muß man bei Sarah Kane, wenn man denn liebt, in die Haut des anderen schlüpfen, ihn sich einverleiben, ihn ganz und gar haben. Dieser maßlose, pathologische Anspruch ist gefährlich: einerseits hat er Dimensionen der griechischen Tragödie (wie Antigone will Irene Kugler sich die Kleider des toten Bruders aneignen), andererseits ist der Schrei nach Liebe, vorgetragen in einer Schiesser-Feinripp-Unterhose, doch etwas lächerlich. Es ist eben auch der Schrei nach dem Märchenprinzen aus der Trivialliteratur.

Zwischen hohem Ton und Banalität schwankt auch Regisseur Martin Kusej. Das Bedrohliche der Inszenierung wird charakteristischerweise nicht durch die Schauspieler, sondern durch den phänomenalen Soundtrack des Bert Wrede, die klinisch-weiße Bühne des Martin Zehetgruber und die Licht effekte des Roland Edrich hergestellt. In diesem Raum werden wirklich Körper vermessen und durch Klang gequält. Dabei bleibt es dann: Kusej kann nicht analysieren, sondern nur mystifizieren. Er bläst Kanes irreale Fragen und kindliche Sehnsüchte zum Welttheater auf, und im Laufe des Abends stellt sich heraus, daß nur Splitter einer Krankengeschichte erzählt werden.

Sarah Kane, deren Stück von Peter Zadek in Hamburg erstaufgeführt wurde, hat ein Ballett der toten Seelen geschrieben, deren sie selbst eine war. Der rüde Ton ihrer Dialoge ist nur Maskierung - dahinter steckte eine gefährdete Person. Schade, daß der Theaterbetrieb, der ja bisweilen auch Solidarität produziert, Sarah Kane so wenig helfen konnte.

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