Retrospektive ist etwas übertrieben: vor allem aus der Frühphase fehlen in dieser Ausstellung die Belege, die beglaubigt hätten, was Martin Kippenberger wirklich war: Rebell, Musiker, Maler, Performance-Künstler, Möchtegern-Dichter, Aktionist, Konzertveranstalter, DJ, Museumsdirektor, begnadeter Endloswitzeerzähler und unbeugsamer Arbeiter, ständig Reisender und wilder Nachtschwärmer. Aber vielleicht ist Vollständigkeit bei Kippenberger auch gar nicht möglich: jemand, der sich in unablässiger Aktion verwirklicht, der dem Augenblick lebt und ständig gegen Mauern anrennt, hinterlässt Spuren, die fragmentarisch sind und oft erst rekonstruiert werden müssen.
Und so müssen wir mit dem zufrieden sein, was da ist, und auch das ist viel: zum Beispiel der wunderbare schwarzweißgraue, noch an den frühen Gerhard Richter angelehnte Bilderzyklus Uno di voi, un tedesco a Firenze, den Kippenberger ganz zu Beginn, 1976, in Florenz gemalt hat, wohin er ging, um ein Künstler zu werden. Das Hohe und das Banale wird wild durcheinandergemischt, von der Klobrille bis zur Domkuppel, grotesk vergrößerte, perspektivisch verzerrte Alltagseindrücke, die erst als Ganzes, als Ensemble wirken. Jeden Tag zwei Bilder, das war seine Forderung an sich selbst, und zwar so lange, bis die aufeinandergelegten Werke seine Körpergröße von 1.89 Meter erreicht hätten. Das hat er nicht ganz geschafft, dafür aber anderes: Provokateur des Kunstbetriebs zu werden, gefürchteter Außenseiter und zugleich Clanchef zu sein, sich selbst zum verobjektivierten Material seines Lebens und seiner Kunst zu machen. Inmitten des Polit-Gestammels friedensbewegter Müslis und anarchistischer Punks in den achtzigiger Jahren wirkte Kippenberger ebenso als Fremdkörper wie im neonfarbenen Ambiente der Kunstschickeria der Neunziger, die ihm auf den Zeiger ging und die er auf den Arm nahm.
In all ihrer postmodernen Zersplitterung repräsentiert Kippenbergers Biographie so etwas wie die linken, subversiven Möglichkeiten der Bundesrepublik - jenseits der langweiligen Parteiapparate. Denn dass er ein Linker war, wie alle ernstzunehmenden Intellektuellen der Post-APO-Phase, steht außer Zweifel. Ebenso wie Gerhard Richter hat er die RAF als ein Thema erkannt, an dem die Widersprüche der noch nazistisch durchsetzten Bundesrepublik sichtbar wurden. Die wurden auch in der Kunst bald wieder wegretuschiert. Mit dem pfadfinderhaften Antiatomgetue konnte er wohl nicht viel anfangen, da machte er lieber auf Lederjacken-DJ in Berlin SO 36. Dass die Kunstszene, ebenso wie die Politszene, dann in viele Blödheiten und Unverbindlichkeiten auseinander waberte, dass manche der Herren sich nun ganz ernsthaft in Anzüge warfen und darin reüssierten, das wird den Verkleidungsvirtuosen Kippenberger eher belustigt haben. Erfolg ja, Integration nein. Ein Anzug ist Parodie, Ver- oder Dienstkleidung. Joschka Fischer als Außenminister stellt, wenn ich den Kippenberger-Kosmos richtig interpretiere, bestenfalls eine Karikatur des Aktionskünstlers dar - nur leider hat er es selbst noch nicht gemerkt.
Kippenberger wollte nicht Minister werden, sondern Regisseur seiner Imaginationen. Das brachte Spaß und vielleicht sogar die Weltgeschichte voran, und es provozierte die Dumpfbacken. Wer diesen Katalog nicht gut findet, muß sofort zum Arzt hieß eine Ausstellung schon im Jahr 1983, und im ZKM sieht man nun jene 58 Fotos umfassende Sammlung von Laternen-Bildern, auf denen Herr Martin Kippenberger sich selbst zusammen mit seltsamen Licht- und wohl auch Inspirationsquellen in Szene setzte: das früheste Bild zeigt den vielleicht fünfjährigen (!) Martin K. (geb. 1953) in inniger Umarmung mit einer Lampe vor einer Essener Kneipe, in die offenbar die Familie eingekehrt war. Die übrigen Fotos zeigen den Reisenden Kippenberger mit Laternen in aller Welt, bisweilen garniert von Mülltonnen und Metro-Schildern. »Martin unser Künstler«, stand bei der Familie K. an der Wand hinterm Küchentisch. Der Mann wusste früh, was er wollte; und das ewige Licht leuchtete ihm.
Das scheinbar Anarchische und Ungebärdige, auch satirisch Zugespitzte an Kippenbergers Arbeiten lässt oft übersehen, wie sorgfältig dieser Mann, zwischen Drogenkonsum und Arbeitswut, sein Leben geplant hat. Er selbst war das Kunstwerk, aber das Kunstwerk war nichts Besonderes mehr: es wollte einer von uns sein. Wer eine Ausstellung »Miete Strom Gas« nennt, hat offenbar Probleme, die Rechnungen zu begleichen. Wer 23 Vierfarbenvorschläge für die Modernisierung des Rückenschwimmers macht und etwas von der »Hamburger Hängung« erzählt, nimmt das Vernissagen-Wesen nicht gerade ernst. Wer zu einer selbstinszenatorischen Foto-Safari nach Brasilien aufbricht und das Ganze als Magical Misery Tour bezeichnet, beweist nicht nur Ironie, sondern auch Sinn für die Realitäten dieser Gesellschaft.
In einem behutsamen Katalogbeitrag schildert Susanne Kippenberger ihren Bruder, das große Kind: hatte Kippenberger Geld, ließ er andere teilhaben, kaufte Anteile an Kneipen auf oder feierte wüste Feste. Hatte er keins, dann musste halt welches beschafft werden. Dass Kunst Kommunikation ist, und dass es ihm mit dieser Phrase ganz ernst war, bewies vor allem sein spätes Projekt Museum of Modern Art Syros (Direktor Martin Kippenberger), das im Grunde nur aus einer leeren, stillgelegten Fabrikhalle auf einer griechischen Insel bestand. Kippenberger ließ seine Künstlerfreunde Vorschläge machen, fertigte Architekturzeichnungen und Einladungskarten, ging auch mit erlesenen Gesellschaften vor Ort - allein: es durfte in der Halle nichts aufgehängt werden. Alles musste in der schönen Möglichkeitsform, im Bereich der Vorstellungskraft verbleiben. Aber alle sollten dabei sein. Dass nebenbei der - hier radikal seines Inhalts beraubte - Kunstbetrieb selbst zum Objekt der (spöttischen) Inszenierung wurde, erhöhte den Spaßfaktor beträchtlich.
Ja, er war ein Verrückter, und wahrscheinlich nicht nur ein Beglücker für seine Freunde (und Freundinnen), sondern auch eine Nervensäge, aber eben eine unglaublich produktive. Keiner hat sich und das Künstlersein so in Frage gestellt und gleichzeitig so inszeniert wie Kippenberger. Was kann man heute noch malen, da alles gesagt ist? Wie kann Kunst eingreifen, den Mächtigen vors Schienbein treten und gleichzeitig noch Geld bringen? Wie kann man sich im und gegen den Kunstbetrieb behaupten? Der bösen Welt das Zerrbild zeigen? Kippenberger war nicht korrumpierbar. Bisweilen muss er gegenüber anderen von fast bösartiger Ehrlichkeit gewesen sein: ein Beleidigungskünstler eben auch. Den Geniekult ironisieren, und gleichzeitig sich als Genie gebärden - in diesem Widerspruch hat er gelebt; in gnadenlosen Selbstportraits ist das in Karlsruhe nachzuvollziehen, der Künstler mit Schmerbauch und in Unterhosen, der Künstler mit Sonnenbrille und Totenkopf, der Künstler als Experimentierfeld menschlichen Seins überhaupt. Der Kurator der Karlsruher Ausstellung, Ralph Melcher, bezeichnet ihn fast liebevoll als »Allesfresser« - aber dieser Müllschlucker spuckte alles wieder aus, in verwandelter Form: Kippi, die liederliche Recyclinganlage.
Eine »sympathische Kommunistin« hat er 1983 gemalt, als gegenständliche Malerei out war und Kommunisten sowieso. Einen Frosch hat er ans Kreuz gehängt, als das (in Wien) allgemein noch als Gotteslästerung galt. (Freilich hat er später auch sich selbst als Gekreuzigten gesehen, in einer gewissen Selbstüberhebung. Aber vielleicht auch gekreuzigt von den Drogen). Auf Hotel- und Restaurantrechnungen hat er gezeichnet, um die furchtbare Leere dieser Zahlenzettel zu besiegen. Vielleicht lohnt es sich, einfach die Metaphorik der von ihm benutzten oder gemalten Gegenstände einmal nachzuvollziehen: Pillen, um sich zu betäuben; Schleudersitze, um sich nach außen zu katapultieren; Rollstühle, weil man so ein furchtbarer Krüppel ist. Am Schluss kommen in den farbintensiven Großformaten immer mehr breitwanstige und fetthüftige Männer vor, auf Betten liegend, ein gewisser depressiver Selbst- und Weltekel macht sich breit, manche Bilder sind an der Seite mit Münzen garniert, als wenn ein Pflastermaler die Tageseinnahmen am Rand des Bildes sortiert hätte. Da war Kippenberger vielleicht ein wenig müde geworden. Müde vom vielen Leben.
Die Ausstellung bildet Werkblöcke, Serien, Schwerpunkte, gibt Orientierungshilfen. Hier die Plakatkunst mit so schönen Titeln wie Helmut Newton für Arme oder Gib mir das Sommerloch, dort die hohlbäuchigen Skulpturen der Familie Hunger, da das Tiefe Kehlchen, das Kippenbergers Wende zur Konzeptkunst signalisiert. Und über allem schwebt das doppeldeutige Thema des »2.Seins«, des Seins hinter dem Sein, aber auch der zweiten Chance. Kippenberger, der wegen übertriebenen Alkoholkonsums diese Chance später leider nicht bekam, kokettierte stets damit, der Zweitbeste zu sein - aber da der Beste, Picasso nämlich, schon tot war, ließ es sich damit ganz gut leben. Kippenberger bewunderte anfänglich den Realitätsverfremder Gerhard Richter, dessen Entwicklung zum farbwuchernden Malerfürsten er dann freilich ablehnte. Zusammen mit seinem Freund Albert Oehlen karikierte er die großformatige Bedeutungshuberei der Neuen Wilden, denen er mit wüsten Unterhosenbildern antwortete. Denn auch Vorbild Pablo P. hatte sich noch als alter Mann gern in Unterhosen fotografieren lassen - nichts konnte den wirklich entstellen. Und Kippenberger verstand sich als Antipode zu dem filzigen Schamanen Joseph Beuys, der sich mit Hut und Weste wie ein Priester inszenierte und später ja tatsächlich zum Kurienkardinal des grünen Gutmenschentums aufstieg - Beuys´ Diktum »Jeder Mensch ist ein Künstler« konterte Kippi mit einem knappen »Jeder Künstler ist ein Mensch«.
Das Verschwinden der Menschlichkeit aus der Gesellschaft aber ist in Kippenbergers Bildern überdeutlich: hier trauert jemand, indem er wüste Grimassen schneidet und den wilden Mann markiert. Die Idee des globalen Metronetzes, für das er immer wieder Eingänge entwarf, ist auch eine Suche nach Nähe, die freilich virtuell bleiben musste. Saß er mit Museumsdirektoren am Tisch, benahm sich Kippenberger gezielt daneben, kam er bei der bescheidenen Sammler-Familie Grässlin im Schwarzwald vorbei, war er die Freundlichkeit in Person. Er sah sich selbst als Material: als junger Mann in Berlin von Punks zusammengeschlagen, fotografierte er sein zerschundenes, bandagiertes Gesicht und machte eine Bilderserie und zwei große Gemälde daraus. Titel: Dialog mit der Jugend.
Nein, er hat sich selbst nicht geschont, und daran ist er zugrunde gegangen. Um jeden Preis neue Erfahrungen machen, die Langeweile der Wohlstandsgesellschaft besiegen, die Extase kennenlernen - Martin Kippenberger, der schon als 17-jähriger seinen ersten Drogenentzug machen musste, hat sich zu Tode getrunken. 1997 ist er an einem durch Leberzirrhose bedingten Krebs gestorben. Am 25.Februar wäre er 50 Jahre alt geworden.
Martin Kippenberger: Das 2. Sein. Museum für Neue Kunst im ZKM Karlsruhe. Bis 27.April. 2003. Katalog (Dumont) 29 Euro. Eine Ausstellung mit Kippenbergers Zeichnungen folgt ab 17.April in der Kunsthalle Tübingen, und im Kunstverein Braunschweig werden zeitgleich die Multiples gezeigt.
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