Schon der Klappentext geht in die Vollen. "Ich möchte", verkündet da Michel Foucault, "daß meine Bücher Skalpelle, Molotowcocktails oder Minengürtel sind und daß sie nach Gebrauch wie ein Feuerwerk zu Asche zerfallen". Eine aggressive Größenphantasie, die über den Autor Foucault mehr sagt als manche seiner Aufsätze und Interviews in dem zweiten Band von Dits et Ecrits.
Aber so sprach man damals, in den siebziger Jahren. Bücher mussten Molotow-Cocktails sein, die mindestens die vorangegangene Philosophiegeschichte in die Luft sprengten; und dass Foucault auch den sadistischen Terminus "Minengürtel" benutzt, lässt Böses ahnen - hier wollte Terrain erobert und abgegrenzt werden. Das militärische Vokabular galt damals als schick.
Foucaults Leistung ist es zweifellos, das damals marxologisch dominierte Weltbild linker Philosophie-Seminare gründlich durcheinandergebracht zu haben. Dass Geschichte sich auf einen klassenlosen Endpunkt hin, auf alle Fälle aber im Sinne des Fortschritts entwickle, das wollte ihm nicht einleuchten. Auch hatte Sexualität bei ihm nicht unbedingt etwas mit Befreiung zu tun, sondern war lediglich eine sich wandelnde Erscheinungsform (und Redeweise) innerhalb eines Machtdispositivs, dem man nicht entrinnen könne.
Was jetzt unter dem Titel Dits et Ecrits vorliegt, das ist sozusagen die Begleitmusik zu Foucaults großen Büchern - alles, was er je veröffentlicht hat, zum Teil an entlegener Stelle. Und wie es bei solchen verdienstvollen editorischen Fleißarbeiten oft der Fall ist, enthält die Sammlung einige starke Texte, aber eben auch jede Menge - sagen wir: vernachlässigbarer Exerzitien.
Immerhin kann man an diesen zum Teil narzisstisch ausufernden Essays Foucaults Werdegang im Detail verfolgen. Sein Interesse an der Psychologie beginnt ganz konventionell mit Ludwig Binswanger, zu dessen daseinsanalytischem Traum und Existenz er 1954 ein ausführliches Vorwort verfasst. Allerdings wird hier schon deutlich, dass Foucault andere Denker stets nur als Folie für eigene, meist hochfliegende theoretische Spekulation benutzt. Auch wenn Foucault die Hölderlin-Analyse des - noch vor Lacan -wahrscheinlich bedeutendsten französischen Psychoanalytikers Jean Laplanche bespricht, das ist im März 1962, fällt dieser Hang auf, eher eigene Theorien zu verbreiten als die zu rezensierende wahrzunehmen. So erfahren wir wenig über Laplanche, aber viel über Foucaults Glauben an das Genie und die Produktivkräfte der Abweichung.
Der erste Band der Dits et Ecrits läuft relativ parallel mit Foucaults Arbeiten zur Entstehung der Psychiatrie und der Humanwissenschaften als eines neuen Wissensfeldes, mit der Untersuchung des "ärztlichen Blicks"; der zweite Band begleitet Foucaults Auseinandersetzung mit dem Gefängnis und seine zunehmende Politisierung. Dabei werden auch erschreckende Texte wieder abgedruckt - zum Beispiel, wenn sich Foucault 1972 mit den damaligen Maoisten Andre Glucksmann und Bernard Levy über "die Volksjustiz" auseinandersetzt und dabei die direkte Volksgewalt befürwortet. Das liest sich dann so: "Mir scheint, man darf nicht von der Form des Tribunals ausgehen und sich dann fragen, wie und unter welcher Bedingung es ein Volkstribunal geben kann, sondern man muß von der Volksjustiz, von den Taten einer Volksjustiz ausgehen und sich fragen, welchen Platz darin ein Tribunal einnehmen kann. ... Meine Hypothese ist nun allerdings die, daß das Tribunal nicht gleichsam der natürliche Ausdruck der Volksjustiz ist, sondern daß es eher die historische Funktion hat, die Volksjustiz einzufangen, zu beherrschen und abzuwürgen, indem sie wieder ins Innere von Institutionen überführt wird, die für den Staatsapparat bezeichnend sind." Ergo: wer sich nicht einfangen, beherrschen und abwürgen lassen möchte, der möge seinen sogenannten Volkszorn dann doch lieber ganz direkt sich austoben lassen. Das sind Thesen, die nicht nur ins ganz linke, sondern auch ins ganz rechte politische Weltbild passen.
In zahlreichen Texten und Interviews des zweiten Bandes wird von Foucault, zum Teil in einem seltsam anmutenden anarchistischen Gestus, ein universeller Unterdrückungszusammenhang beschworen: egal ob Schule, Kaserne, Fabrik, Waisenhaus, Irrenanstalt oder Gefängnis - in allen manifestieren sich dieselben Strukturen bürgerlicher Machtausübung. Bisweilen hat das schon paranoide (oder soll man sagen: paranoid-komische) Züge - etwa wenn Foucault 1971 Pariser Gymnasiasten für die Zeitschrift Actuel interviewt und gleich, als verständnisvoller älterer Bruder, mit der Suggestiv-Frage loslegt: "Welche Form von Unterdrückung ist für einen Schüler heute am unerträglichsten: die Autorität in der Familie, die Drangsalierung durch die Polizei, der heute jeder tagtäglich ausgesetzt ist, die Organisation der Schule und die Disziplin dort oder die Passivität, zu der euch die Presse verurteilt?" Also, Schüler, aufgepasst: der linke Großvater ist Strukturalist geworden; er will mit euch einen trinken gehen.
So tauchen viele Undifferenziertheiten und Seltsamkeiten auf, die geeignet sind, das Bild des Philosophen zu beschädigen. Selbst wenn man in Betracht zieht, dass Foucault sich als Schwuler im Frankreich der siebziger Jahre durchaus diskriminiert fühlen konnte, rechtfertigt das nicht die begriffliche Sorglosigkeit, mit der er in den Interviews Sex, Bildung, Arbeit und politischen Kampf kurzschaltet und unter der Perspektive universeller Repression betrachtet - ganz im Gegensatz etwa zum ersten Band seiner Geschichte der Sexualität, in dem er die Repressionshypothese vehement bekämpft und die Körper und ihre Lüste quasi als Produktivkräfte eines übergeordneten, strukturellen Macht-Dispositivs betrachtet.
Die Auseinandersetzung um Foucault hat sich stets an zwei Punkten entzündet: an seiner sorgfältig verkleideten Geschichtslosigkeit und an der von ihm betriebenen Auflösung des Subjekts. Beide Vorwürfe, von Sartre und, aus anderer Perspektive, von Habermas vorgetragen, sind - von heute aus gesehen - berechtigt. Gerade die in den Interviews dokumentierten spontanen Assoziationen Foucaults zeigen, dass er es ernst meint mit dem "Tod des Menschen", mit der Auflösung des Subjekts in sprachliche, biologische, gesellschaftliche Strukturen. Die Ablehnung des Subjektbegriffs ist natürlich insofern absurd, als er es doch ist, der spricht. Oder spricht es aus ihm? Warum aber kann er dann bestimmten Intentionen folgen? Warum sprechen dann nicht alle gleich, die unter gleichen Bedingungen leiden? Foucault begeistert sich für das Unbewusste, statt es zu analysieren; er will es in seiner Trübheit belassen. Auch Geschichte ist ihm nur Abfolge bestimmter Strukturen und Dispositive; die Möglichkeiten des Eingreifens scheinen entmutigend gering. Aber darum geht es ihm auch gar nicht - eher darum, den verhassten Humanismus zu destruieren, der das Individuum zum Zentrum, zum Subjekt wie Objekt der Wissenschaften machte, zum Erkenntnismittel wie Erkenntniszweck. Das löst er auf in einen vielgestaltig-unbestimmten Begriff wie "die Macht", die auf uns allen sitzt wie eine Käseglocke über dem schwitzenden Camenbert.
So auch bei den jetzt erschienenen Vorlesungen Die Anormalen, die Foucault 1975 am Collège de France gehalten hat. Foucault beschäftigt sich dabei mit sexuellen Abweichlern, Straftätern und Kindern; er nennt diese Personen "das Monster", "das zu bessernde Individuum" und "das masturbierende Kind". Mehr noch ist es ihm um die Form der gerichtlichen Gutachten zu tun, das heißt um die Analyse eines Machtinstruments, das er in einem Raum zwischen Medizin und Jurisprudenz angesiedelt sieht und das ganz eigene Regeln ausbildet. Foucault zeigt anhand eines relativ jungen Gutachtens (aus dem Jahr 1955), dass diese Expertisen, die eigentlich die Zurechnungsfähigkeit oder Schuldfähigkeit der Angeklagten feststellen sollen, keine psychiatrischen, sondern moralische Urteile über diese Menschen fällen: es wird der Lebenswandel beurteilt, nicht die Tat, nicht eine psychologische Struktur. Die groteske Oberlehrerhaftigkeit dieser Gutachten nennt Foucault "ubuesk".
Die mangelnde wissenschaftliche Seriösität der Gutachter glaubt Foucault schon mit deren Wortwahl bewiesen: "Sie stoßen regelmäßig auf Begriffe wie Nichtintelligenz, Mißerfolg, Unterlegenheitsgefühl, Armut, Häßlichkeit, Unreife, Entwicklungsfehler, Infantilismus, Primitivität des Verhaltens, Instabilität undsoweiter ... Die Psychiater bemerken einen unterentwickelten Charakter, eine wenig strukturierte Persönlichkeit, schlechte Realitätswahrnehmung, tiefes affektives Ungleichgewicht, sehr ernsthafte emotionale Störungen". Die ideologische Voreingenommenheit der Psychiatrie der fünfziger Jahre soll hier gar nicht bezweifelt werden. Foucault kommt aber mitnichten auf den Gedanken, dass sich die pejorativen Begriffe durchaus auch auf nachprüfbare Sachverhalte beziehen könnten und - dass aus einer richtigen Einordnung der Symptome auch eine Fürsorgepflicht für den Angeklagten folgen könnte. Dazu ist er seinerseits viel zu sehr mit einer ideologischen Einordnung der Psychiatrie beschäftigt.
Viel wichtiger als die Generalverdammung der psychiatrischen Wasserträger scheint mir Foucaults Erkenntnis, dass sich der Blickwinkel solcher Gutachten historisch stark gewandelt hat: während im 16. und 17. Jahrhundert der Anormale ein Verstoß gegen die Regeln der Natur ist, ein durch Verwachsung entstelltes Monster, ein Unglücklicher, ein Krüppel, ein Hermaphrodit, ein siamesischer Zwilling, der ausgesondert wurde wie die Leprakranken, ist er gegen Ende des 18. Jahrhunderts und im 19. Jahrhundert ein Abweichler gegen die Norm, der gebessert werden muss. Foucault erläutert das an zwei Fällen von Hermaphrodismus, deren Gerichtsgutachten er in den Archiven auftreibt: am Fall der Marie Lemarcis in Rouen 1601 und am Fall der Anne Grandjean aus Lyon 1765.
Marie Lemarcis kleidete sich wie ein Mann und lebte mit einer Frau zusammen. Sie wurde zunächst zum Tode verurteilt. Dann wurde das Urteil revidiert: sie musste sich wie eine Frau kleiden und durfte - unter Androhung der Todesstrafe - keinerlei sexuelle Beziehungen unterhalten, egal, ob zu Männern oder Frauen.
Anne Grandjean, die 160 Jahre später ebenfalls in Männerkleidern mit einer Frau zusammenlebte, wurde in Lyon als "Schänderin des Ehesakraments" verurteilt: Halseisen, Rute, Rohrstock. Nach einem Berufungsverfahren kommt sie frei unter der Auflage, Frauenkleider anzulegen und keinerlei Kontakt zu Frauen aufzunehmen. Wichtig ist für Foucault die Veränderung des Gutachter-Diskurses: während um 1600 erstmals ein Arzt die Geschlechtsorgane des angeblichen Hermaphroditen abtastete und beschrieb (was bis dahin nicht üblich war), ist für die Gutachter des zweiten Verfahrens klar, dass der angebliche Mann eine Frau ist und sich nur einer sexuellen Verirrung schuldig gemacht hat.
Es geht also um weibliche Homosexualität, und Foucault kann wunderbar zeigen, dass die Wahrnehmung dieses Faktums sich innerhalb von 150 Jahren völlig verkehrt: Ist der Fall von 1601 eine Aberration der Natur und der Hermaphrodit ein Monster, weil er beide Geschlechter in sich vereint, so ist 1765 das Verhalten der eindeutig als Frau klassifizierten Anne Grandjean das Verurteilenswürdige und Monströse.
Foucault exemplifiziert seine Generalthese über die "Anormalen" später noch am "korrektionsbedürftigen Individuum", das durch gesellschaftliche Disziplinierungstechniken wie Armee, Schule, Werkstätten, Gefängnis zugerichtet werden soll, und am "masturbierenden Kind", das von der Familie drangsaliert wird. Er schreibt nie über Menschen, die ihr Leben aktiv gestalten, über unterschiedliche Freiheitsgrade und kleine Rück- und Fortschritte, sondern immer über Opfer, die im Netz nur vage bezeichneter Macht-Dispositive zappeln, aber das Signum der Besonderheit, den Adel der Abweichung an sich tragen. Und "Macht" und "Dispositiv", diese Foucaultschen Hauptbegriffe, genießen bei ihm einen fast transzendenten Status - wie der Gottesbegriff in der alten Metaphysik.
Die Faszination, die Foucaults Bücher als Gegenentwurf zum marxistischen Geschichtsoptimismus einst hatten, ist heute ziemlich verblasst. Es tritt immer deutlicher zutage, dass Foucault selbst von der Abweichung, von den Anormalen, wahrscheinlich auch von der Macht fasziniert war - und dass seine Verliebtheit in die Ausweglosigkeit auch etwas Dogmatisches hat.
Michel Foucault: Dits et Ecrits. Schriften. Herausgegeben von Daniel Défert und Francois Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange. Band 1, 1954-69: 1075 Seiten, Suhrkamp, Frankfurt 2001, 51.- E; Band 2, 1970-75: Suhrkamp, Frankfurt am Main 2002, 1031 S., 58,- E
Michel Foucault: Die Anormalen. Vorlesungen am Collège de France (1974-75). Aus dem Französischen von Michaela Ott. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2003, 476 S., 38,- E
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