Von Schoß- und Kettenhunden

Seine Inszenierung war das Theater Der Intendant Friedrich Schirmer verlässt nach 12 Jahren Stuttgart und geht ans Deutsche Schauspielhaus nach Hamburg - eine kleine Bilanz

Wenn einer zwölf Jahre lang Intendant in derselben Stadt ist, zumal im Schwäbischen, dann gehört er fast zum Ortsbild wie der Oberbürgermeister und der Hauptbahnhof: Man fragt sich, war da eigentlich vorher was? Doch, vorher war da zum Beispiel Jürgen Bosse, dem es unter anderem gelang, den Schulden machenden Generalintendanten Wolfgang Gönnenwein aus dem Amt zu treiben. Und davor war da immerhin Ivan Nagel. Aber keiner blieb solange wie Friedel Schirmer.

Um die historischen Dimensionen zu verdeutlichen: 1993, als er in Stuttgart antrat, war Salman Rushdie auf der Flucht vor den Mordkommandos des Ayatollah Chomeini, Helmut Kohl stand im Zenit seiner Selbstgerechtigkeit, ein gewisser Steffen Heitmann wäre beinahe Bundespräsident geworden, und Dynamo Dresden spielte erste Bundesliga. Mein ältester Sohn ist zwölf Jahre alt. Will sagen: es ist auch Lebenszeit verflossen, seit Friedel Schirmer das Stuttgarter Staatstheater betrat, das man dann als Kritiker manchmal durchaus frohen Herzens, oft aber auch schwermütig in Anbetracht der sich abzeichnenden Stagnation besuchte.

Der Intendant Schirmer ist ein Dickkopf: Wen er liebt, den will er durchsetzen. Auch wenn es in den Zeitungen ächzt und stöhnt - er glaubt unbeirrbar an seine Regisseure und Schauspieler. Und er hat leider die Neigung, immer wieder auch kleinere Talente zu engagieren, wenn sie nur loyal zu ihm stehen. (Kleinere Talente sind nun mal loyaler als die großen Begabungen, die gehen dann irgendwann.)

Auf diese Weise gehörte Stuttgart unter seiner Leitung nie zu den wirklich erstklassigen Theatern der Republik; es gab immer wieder herausragende Arbeiten, es gab vor allem Elmar Goerden, den Schirmer entdeckt hat und der nun selber Intendant in Bochum wird. Es gab aber auch viel Mittelmaß und Abstürze und viel Wind um wenig - doch dem Intendanten ist es gelungen, aus bescheidenen Anfängen ein riesiges Repertoire aufzubauen und im Hause eine knallharte Corporate Identity zu schaffen: Schirmer-Leute sind davon überzeugt, dass es das Großartigste überhaupt ist, was sie gerade tun, dass sie am besten, kreativsten, geilsten, aufregendsten Theater der Welt arbeiten und gar nichts anderes machen möchten. Dieser Dauer-Größenwahn, in dem auch berechtigte Kritik nur als zusätzliche Anfeuerung ("jetzt erst recht"), nicht aber als Möglichkeit zum Innehalten angesehen wird, hat zu einer nun 12-jährigen Regentschaft geführt, während der die Intendanz ihrerseits den Stuttgarter Zuschauern ständig zurief, wie toll sie doch seien, das beste Publikum überhaupt - weil es den Schirmer-Leuten aus der Hand fraß, zumindest bei den Premieren. Uns wäre es umgekehrt lieber gewesen: Das Publikum etwas böser, das Theater etwas besser.

Kleine Rückblende: In den achtziger Jahren wollte Friedrich Schirmer, als Dramaturg aus Dortmund kommend, Intendant am damals immerhin halbberühmten Tübinger LTT werden - und wurde nicht genommen. Das muss ein ziemliches Trauma für ihn gewesen sein. Er bekam dann 1985 die etwas weniger gut beleumundete Württembergische Landesbühne Esslingen - und machte aus dem betulichen Theaterchen, das gerade in einen neuen Bau gezogen war, innerhalb von ein paar Jahren ein Haus, das weit über seinen eigentlichen Möglichkeiten arbeitete, eine Produktion nach der anderen heraushaute, manchmal sogar Uraufführungen (der Schauspieler Manni Meihöfer wurde da zum Autor), und oft vergessene, problematische Stücke spielte, Taboris Kannibalen zum Beispiel und Gerstenbergs Ugolino. Das sprach sich herum: Schirmer, der Stücke-Ausgräber, der immer noch einen vergessenen Text im Keller hatte - "das Trüffelschwein". (Man weiß nie so ganz genau, ob solche Etiketten ihm angehängt werden oder ob er sie selber in Umlauf setzt; jedenfalls arbeitet er mit ihnen, und genau das ist Teil seines Erfolgs.)

Auf diese Weise wurde Schirmer 1990 Intendant in Freiburg und damit Chef eines Dreisparten-Hauses, er, dessen Verhältnis zur Oper man nicht gerade innig nennen möchte. Hier plötzlich begann er, nachwachsende Regisseure zu entdecken, die er gern "junge Wilde" nannte oder auch als seine "Kettenhunde" titulierte - oder war es die Presse, die das tat? Niemand weiß es so genau. Schirmers bis dahin wichtigste Entdeckung war Jürgen Kruse, der immer ziemlich laut Rolling Stones hören musste, um überhaupt arbeiten zu können, dem Schirmer aber eine der besten Stuttgarter Inszenierungen verdankt, Richard II mit Anne Tismer als Richard, ein Frauen-Kinder-König als Wüterich. Wüterich ist immer gut bei Schirmer. Das zweite Freiburger Regie-Raubein hieß Günter Gerstner, auch er durfte noch nach Stuttgart mit, spielte aber nie die tragende Rolle, die ihm offenbar zugedacht war - denn Schirmer hatte schon einen neuen Liebling gefunden: den in seinen Inszenierungen stets dunkel raunenden Martin Kusej. Dessen Aufführungen kamen fürchterlich bedeutsam und manieriert daher, blieben aber immer, wenn man es genauer wissen wollte, im Ungefähren. Auf diese Weise setzte Kusej zu Beginn der Stuttgarter Schirmer-Ära Grabbes kraftgenialischen Herzog Theodor von Gothland programmatisch düster in Szene, mit einem sinnlos nackt in einer Wanne brüllenden Manfred Meihöfer als Gothland. Als das Publikum solche Dekadenzübungen nicht mochte, hieß es, man habe eben viel riskiert, das sei die neue Stuttgarter Ästhetik.

Wirklich? Es kam dann ganz anders: Kusej konnte hinter seiner dunklen Maske auch ausgesprochen hübsche, gefällige Inszenierungen machen, er setzte mit der Purcell-Oper King Arthur den Maßstab für bombastisches, nettes Bildertheater, blieb einige Jahre der Protagonist der Schirmer-Riege und entschwand sodann, um anderswo eine große Karriere zu beginnen.

Schirmer hatte da schon einen ganzen Pool handwerklich seriös arbeitender Jungregisseure beisammen - und das ist wirklich seine große Gabe: immer wieder zu motivieren, die richtigen Leute im Ensemble zusammenzubringen und anzuleiten. Früher hat Schirmer auch selbst inszeniert. Seit der Stuttgarter Zeit kompensiert er den Schmerz, selber nicht als großer Regisseur in die Geschichte einzugehen, mit der Gewissheit, zentrale Schaltstelle und Gehirn des ganzen Unternehmens zu sein: seine Inszenierung ist das Theater. Etwas kritischer könnte man auch sagen: der Betrieb.

Natürlich weiß er, dass er ohne Theater wahrscheinlich gar nicht leben könnte. Allein am Schreibtisch sitzen, das ist sein Ding nicht. Er muss ICE fahren, fremdes Theater sehen. Es muss wuseln, Menschen müssen zu ihm kommen und was wollen. Er muss Entscheidungen treffen, Projekte anschieben, Wohltaten verteilen oder auch versagen können. Immer ist es auch sein Projekt, wenn ein junger Regisseur eine Idee hat. Gemeinsam mit seiner Frau Marie Zimmermann, die jahrelang bei ihm Dramaturgin war und die Außenwirkung des Stuttgarter Theaters ganz entschieden gesteuert hat, verkörpert er eine Art wohlwollend-strenge Eltern-Instanz für das Restensemble. Zimmermann arbeitet mittlerweile in Wien und leitete kürzlich das Stuttgarter "Theater der Welt", aber die Erschaffung der Stuttgarter Theaterfamilie ist mit ihr Werk. Dass dabei immer wieder auch bescheidenere Schauspieltalente führend zum Zug kamen oder die großen Spieler nicht wirklich erkannt wurden, liegt leider in diesem Familiensinn begründet: Familie ist eben auch ein neurotisches Unternehmen. Manchmal gehören sogar Kritiker zur Familie, als Schoßhündchen: Sie stehen dann in der Halbzeitpause mit Marie Zimmermann im Foyer und lassen sich etwas einflüstern. Das spricht weniger gegen Zimmermann als gegen eine bestimmte Art von Journalismus. Andererseits bekommen Kritiker schon mal böse E-Mails, wenn in der Rezension wieder "eine Grenze überschritten" wurde. Die zentrale Überwachungsbehörde ruht nicht, sie hat alles gelesen.

Mit Stephan Kimmig, Christoph Loy, Christian Pade, Elmar Goerden, Hans-Ulrich Becker und Elias Perrig hatte Schirmer nach ein paar Jahren ein Sextett versammelt, das inszenatorisch und intellektuell verlässlich war: Loys Kinder der Sonne, Pades Totmacher, das waren tolle Arbeiten, und Elmar Goerdens Blunt-Inszenierung, die zum Theatertreffen gewählt wurde, war wahrscheinlich die in Schauspielerführung, Genauigkeit und Atmosphäre beste Arbeit der gesamten Intendanz. Natürlich könnte man jetzt bestimmte Schirmer-Themen herauspräparieren, die sich durch die Spielpläne ziehen, aber das wäre ganz falsch. Er segelt immer hart am Wind der Zeit, politisch und auch ästhetisch, und das heißt: manchmal auch im Wind der Moden. Andererseits leistet er es sich, kurz mal (innerhalb von zwei Spielzeiten) fast den ganzen Horváth und alle wesentlichen Beckett-Stücke zu spielen, einfach, weil er das in seinem Theater mal sehen möchte. Das ist schon wieder richtig sympathisch in seiner Verrücktheit.

Im letzten Drittel der Intendanz war die Regie-Truppe, die dritte Generation dann nicht mehr ganz so originell wie ihre Vorgänger: der Engländer Marc von Henning verlor sich nach starkem Beginn (Unruhe am Rand der Schöpfung) immer mehr in gewalttätigen Stilübungen, der leicht überschätzte Sebastian Nübling (I Furiosi) erwies sich als freundlicher Chorleiter aus der klassikgestützten Fankurve (Motto: eine Idee, eine Inszenierung). Hasko Weber bot viel Durchwachsenes aus der alten DDR-Schule, machte aber mit einer wirklich großartigen Ibsen-Inszenierung (Peer Gynt) auf sich aufmerksam - das reichte, um auf Schirmers Betreiben hin neuer Schauspielintendant zu werden. So sorgte der langjährige Potentat gleich noch für seinen Nachfolger; das nennt man Einfluss.

Er selber zieht nun nach Hamburg, um das seit Jahrzehnten völlig unregierbare, weil viel zu große Schauspielhaus zu übernehmen. Und wir wollen hier noch mal laut resümieren, was man in Stuttgart sowieso schon weiß: Schirmer war, Schirmer ist ein ausgefuchster, aber auch kindlich-begeisterter, ein machtbewusster, aber bisweilen auch naiver Charakterdarsteller als Intendant, mit allen Licht- und Schattenspielen und merkwürdigen Auftritten, die dieser Job so mit sich bringt. Wir wollen, in der Sentimentalität des Abschieds, nicht alles rosig sehen; aber wir wollen ihm seinen Dickkopf auch nicht nachtragen, mit dem er bisweilen für die falsche Sache (und für die falschen Leute) streitet. Vermutlich ist er einer der besten Theaterleiter in Deutschland. Das möge er, so er will, noch länger bleiben.


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