Die Geste des Soldaten ist dezent, aber bestimmt. Mit einem leichten Wink im Vorübergehen bedeutet er der jungen Frau aufzustehen. Er fordert Respekt ein für die Zeremonie, die sich in diesem Moment in ihrem Rücken vollzieht: die Wachablösung am Grabmal des Unbekannten Soldaten im Alexandergarten, direkt an der Kremlmauer in Moskau. Ein unangemessener Platz anscheinend, den sich die modische Schöne da für ihre Zigarettenpause ausgesucht hat. Mag sie den langsamen Stechschritt seiner exerzierenden Kameraden mit der Musik aus ihrem Walkman noch übertönen – den Befehl des Soldaten ignorieren kann sie schlecht. Aber sie rächt den Platzverweis, den sie ganz offensichtlich als Zumutung empfindet, mit einem Blick, der es in sich hat: eine Skepsis liegt darin, mit der sie nicht nur ihn, den Uniformierten persönlich, in Frage zu stellen scheint, sondern augenscheinlich auch die gesamte militärische Tradition im Land und weil eng damit verwoben, gleich das gesamte politische System. Ein tiefer russischer Graben tut sich da zwischen den beiden auf, den der Fotograf Leo Erken mit dem Titelfoto seines Bildbandes „Ulitza/Straße“ meisterhaft veranschaulicht. Es ist der Graben zwischen Tradition und Moderne, zwischen Einschränkung und Freiheit, zwischen autoritärer Politik und individueller Verwirklichung, zwischen Putin und Pussy Riot.
Auf solch prägnante Weise berichtet der niederländische Fotograf mit seinen Bildern viel und eindrücklich von Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion. Sein nun erschienener Band versammelt Aufnahmen, die er auf zahlreichen Reisen von 1987 bis 2003 dort gemacht hat. Bewegte Jahre waren das, die Leo Erken hier nacherzählt; überwiegend in Schwarz-Weiß-Aufnahmen, ergänzt um kurze, informative Bildtexte. Es waren auch die letzten Jahre eines Fotojournalismus, der noch mit Dunkelkammern und Bildversand per Post funktionierte; als bedachte Fotoserien noch einigermaßen gut bezahlt wurden, bevor die digital vermittelte Bilderflut die Honorare drückte. Gar nicht lange ist das her und scheint doch aus einer Zeit, die weit zurückliegt.
Das gleiche Gefühl erwecken auch die Bilder der Ereignisse, die der Band dokumentiert. Solidarność-Bewegung, Mauerfall, die Samtene Revolution in der Tschechoslowakei, der Zerfall Jugoslawiens, die Umbrüche in Russland, die Kriege in Tschetschenien. Immer wieder fanden sich für Erken neue Anlässe aufzubrechen, zu beobachten und zu fotografieren. Zum ersten Mal zieht er mit dreiundzwanzig Jahren los. Das Autorenfoto im Buch zeigt noch den blutjungen Fotografen von damals, der mit seinen Kameras behängt, die weite Welt des Ostens regelrecht umarmen will. Vielleicht noch ein bisschen naiv, aber sicherlich begeistert. Dieser junge Fotograf ergattert erstmal nur einen Platz weit hinten in der Menge, als er 1987 Papst Johannes Paul II. bei dessen dritten Polenbesuch fotografieren will. Ganz klein nur sieht man den kirchlichen Hoffnungsträger zwischen seinen Landsleuten, und wohl auch nur, weil man die Bildunterschrift gelesen hat. Trotzdem oder gerade deshalb bekommt das Bild seinen Reiz.
Später ist Erken dann dicht dran an den Mächtigen; an denen, die es werden sollten und an denen, die es waren. Wir können durch seine Portraits in ihren Gesichtszügen lesen, sehen die inneren Regungen eines Alexander Dubček und eines Václav Havel im Moment des Sieges, den selbstsicheren Draufgängerblick eines Slobodan Milosevic, einen nachdenklichen, im Sessel versunkenen Michail Gorbatschow, Boris Jelzin im Bürgergespräch oder die müde und gelangweilte Mine eines Vladimir Putin. Nicht wenige von denen, die Erken aufgrund ihrer politischen Rolle aufsuchte und portraitierte, kamen aufgrund ihrer Positionen gewaltsam ums Leben. Wenn man seine Bilder der Kriegsherren in Tschetschenien sieht, mag das nicht verwundern; bei Kadyrow senior, Maschadow, Bassajew oder dem waffenstarrenden Bandenführer Labazanow, scheint der Tod bereits mit im Hintergrund zu stehen. Anders berührt ist man bei den Aufnahmen von Galina Starowoitowa und Anna Politkowskaja, die später dann, wohl aufgrund ihrer oppositionellen Haltung und ihres Engagements für die Menschenrechte, erschossen wurden. Beide waren Gegnerinnen eines russischen Waffengangs in Tschetschenien. Auch bei diesem Krieg ist Leo Erken nah dran. So nah, dass man zurückschreckt, wenn man seine Bilder von dort sieht.
Aber nicht nur der Krieg, nicht nur die Politik werden in „Ulitza/Straße“ sichtbar. Erken fotografiert auf Hochzeiten, auf Rockkonzerten, Marktplätzen und Ausflugsschiffen. Er ist mit seiner Kamera unter Fabrikarbeitern und den Besuchern der exklusiven Clubs und Restaurants. Letztendlich verweisen aber auch diese Aufnahmen fast immer auf die große Politik. Sie bleibt im Bildband dominierend. Ihre Spannungen und Eskalationen waren für Erken oft der Grund, vor Ort zu sein, hinzusehen und festzuhalten. Als Teil einer eingespielten Gemeinschaft von professionellen Berichterstattern, die von einem Brennpunkt zum anderen reisten, wurde er so zum Zeugen der Geschichte. Immer wieder bemühte er sich dabei zu verstehen; versuchte das aktuelle Geschehen und dessen Hintergründe, die Menschen und die Politik zu begreifen. Aber wirklich verstanden, so sagt er heute, habe er nichts. Viel gesehen habe er, viel gehört, aber letztendlich immer nur das zu zeigen vermocht, was er konkret vor der Linse seines Apparates hatte. Und doch erwecken seine Bilder einen Anklang von Verständnis. Wer die Aufnahmen in „Ulitza/Straße“ betrachtet, erfährt etwas. Einen kleinen Teil nur, gemessen an der Dimension der Geschehnisse, aber man fühlt sich involviert, ist mit unterwegs auf den Straßen, den Plätzen, unter den Leuten. Und man wird neugierig auf die Geschichten im Kleinen und die Geschichte im Großen. Ja man würde das mit dem Verstehen gerne selbst einmal versuchen.
Copyright Titelbild: ©Leo Erken
---
Leo Erken: „Ulitza/Straße. Osteuropa und die ehemalige Sowjetunion“. Verlag weiw publishers, Stralsund/Amsterdam 2013. 256 S., 34,50 €.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.