1963 Zurückgespult

Zeitgeschichte Auf der Funkausstellung wird die erste Audiokassette vorgestellt. Das Format ist revolutionär. Musik wird endlich mobil, gerade rechtzeitig für eine Ära des Aufbruchs
Ausgabe 35/2013
1963 Zurückgespult

Foto: Ullstein Bild

Sie lag leicht und locker in der Hand. Sie begleitete uns unauffällig und war immer da. Sie war die gute Seele in unserem Leben. Auf Partys, beim Joggen, am Strand, zu Hause und auf Reisen. Gut, ab und zu rutschte sie unter den Autositz und ließ sich dann etwas bitten. Aber wir nahmen es ihr nicht übel, so wie sie uns nichts übel nahm, wenn Bleistifte zwischen ihre Zähne geschoben wurden oder wenn sie mit fixen Handgriffen in ihre natürliche Umgebung, eine meist abgeschabte Plastikhülle, gekantet wurde. Selbst Aufenthalte in brütend heißen Zugabteilen und Handschuhfächern überstand sie stoisch. Das Maximum an Protest war ein Bandsalat, mit dem sie sich in unseren Schoß werfen konnte. Doch angesichts ihrer übrigen Lebensleistung wäre auch das zu vernachlässigen.

Die Audio-Kompaktkassette – inzwischen ein Veteran unter den Tonträgern der Kulturgeschichte – feiert gerade ihren 50. Geburtstag. Am 30. August 1963, als die Funkausstellung in Berlin (West) zum 23. Mal ihre Pforten öffnete – die Exposition trug seinerzeit noch das Adjektiv „Groß“ im Namen, weil dort präsentierte technische Innovationen oft der Hauch eines überirdischen Lebensgefühls umgab –, erblickte auf dem Messegelände das Magnetband aus dem Hause Philips das Licht der Welt.

Dass die Kassette so klein war, machte sie groß. In jener Zeit waren Musikabspielgeräte und Tonträger Gegenstände, für die es meterweise Regalwand vorzuhalten galt. Die Apparate waren nicht selten Hauptdarsteller im Ensemble der Einrichtungsgegenstände eines Wohnzimmers. Das Fernsehgerät dominierte als neuer Bildtongott das familiäre Sozialgefüge, ergänzt durch Plattenspieler und Tonbandgeräte – koffergroß und bierkastenschwer –, deren Magnetbandspulen das Format mittlerer Teller hatten. Die gut sortierte Aufstellung von Tonbändern und Schallplatten im häuslichen Regal erweckte den Anschein, dass eine Verfügungsgewalt des Konsumenten über den anschwellenden Medienstrom bestand. Zeitschriften wie Hör zu und Funk Uhr schienen zu bekräftigen, dass man sich zwischen Programmalternativen entscheiden konnte. Tatsächlich waren die Medienregimes längst über die bürgerliche Welt hereingebrochen.

Doch zurück zur Kompaktkassette. Revolutionär war nicht nur das kleine Format, als bahnbrechend erwies sich auch der Umstand, dass sie ein neues Gefühl von Freiheit im Zeitalter der Medienregimes zumindest suggerierte: Die Aufnahmetaste des heimischen Kassettenrekorders war der Zauberknopf. Der Konsument wurde plötzlich zum Produzenten. Keine Sendeanstalt, kein Plattenlabel diktierte mehr, was zu hören war. Hinzu kam, dass eine Kompaktkassette das Doppelte bis Dreifache der Abspielzeit einer Langspielplatte bot. Von den maximal 40 Minuten, die das Vinyl hergab, sprang die Spieldauer einer Magnetband-Kassette auf 60, später dann auf bis zu 120 Minuten.

Ein solcher Siegeszug war keineswegs vorherzusehen. Zum einen wurden Jahr für Jahr Dutzende Neuentwicklungen auf der Berliner Funkausstellung oder andernorts vorgestellt, die sich dann im Tagesgebrauch häufig als wenig praktikabel erwiesen. Zum anderen – und das ist der eigentliche Beweis dafür, dass die Kompaktkassette einen Überraschungserfolg feierte – war sie bei ihrer Präsentation im Spätsommer 1963 eigentlich nur als Aufnahmemedium für Diktiergeräte gedacht. Dass sie einen Aufstieg als Musiktonträger oder Medium für Hörspiele erleben würde, damit rechnete zunächst kaum jemand. Schließlich wurden erst 1965 mit Musik bespielte Kompaktkassetten auf den Markt gebracht.

Die Bilder des unerwarteten Erfolgs sind bis heute eine Erinnerung wert. Ob in der Küche, im Kinderzimmer, im Hobbyraum, auf Balkonen oder Terrassen: Der Rekorder steigerte den Erlebniswert von Wort und Musik. Dies galt erst recht, als Ende der sechziger Jahre das Autoradio mit einem Kassettenlaufwerk aufgerüstet wurde. Oder als in den ästhetisch schwülstigen Achtzigern – Dauerwelle und schwerer Schaumgoldschmuck gehörten zum vermeintlich gehobenen Stil – der Walkman ein Lebensgefühl zu bedienen suchte, in dem sich das Bedürfnis nach Mobilität und Musikgenuss spiegelte. Mit dem Sony-Walkman wurde durch den Berliner Tiergarten und den New Yorker Central Park gejoggt, auf Rollschuhen gefahren oder rauchend zur Schule gegangen. Vier Millionen Jahre nachdem der Mensch zum aufrechten Gang gefunden hatte, legte er sich die dazu passende Klangkultur zu. Aus dem gutbürgerlichen Milieu wanderte Musik nun als öffentlich ausgestelltes Distinktionsmerkmal unters Volk. Mit Gettoblastern zogen Jugendliche in ihren Vierteln um die Häuser oder verschafften sich soziale Randgruppen demonstrativ „Gehör“. Jenseits des ritualisierten Verhaltens, wie man es früher bei den Schalmeienkapellen der Gewerkschaften antreffen konnte, wurde der urbane Raum mit dem neuen Selbstbewusstsein der Nicht-Machthabenden musikalisch okkupiert.

Der Siegeszug der Kompaktkassette setzte sich – in unpolitischer Form – in den Kinderzimmern fort. Jim Knopf oder Bibi Blocksberg wälzten sich durch die Gehörgänge von Kindern und geduldigen Eltern. Früh mit der Kompaktkassette sozialisiert, war der Gebrauch während der Pubertät bereits eingeübt: Der Mitschnitt der Hitparaden, in die der Moderator stets zur Unzeit mit seinen Ansagen hineinplatzte, das Mix-Tape für die Jugendliebe, das Demo-Tape der Garagenband waren die Botschafter von Träumen und Ambitionen. Allerdings: Der Siegeszug der Kompaktkassette war kein triumphaler! Diese Audio-Kassette brachte es nie zur Queen des Lifestyle. Ihr fehlte der Glamour, sie blieb der VW unter den Tonträgern und wurde lange Zeit als ergänzendes Medium zur Vinylplatte produziert. Die behauptete sich als Leitmedium und Musiktonträger des gehobenen Kulturanspruchs. Es ist kein Zufall, wenn das Musikarchiv der Deutschen Nationalbibliothek Leipzig, das den zentralen Sammlungsort der deutschen Musikproduktion bildet, erst 1978 anfing, Kompaktkassetten systematisch zu sammeln, weil die Tonaufnahmen ohnehin auf Vinyl dort eingingen. Erst gegen Ende der siebziger Jahre wurde die Kompaktkassette in West und Ost zur Konkurrentin für die Umsätze der Plattenindustrie.

Wer heute noch Kompaktkassetten sein eigen nennt und sie aus den Tiefen eines Schrankes oder vergessenen Umzugskartons ans Tageslicht holt, hat mitunter die Schwierigkeit, dass die Abspieltechnik im Haushalt abhandengekommen ist. Die Befürchtung freilich, dass die Bänder nicht genügend haltbar wären, ist prinzipiell unbegründet. Sollten sie adäquat gelagert worden sein, muss die Tonqualität keinen Schaden genommen haben. Vor- und Nachhall sind Effekte, die auftreten können, wenn sich die Lagen des Magnetbandes über die Jahre gegenseitig magnetisiert haben. Zudem ist es möglich, dass bei überspielten Bändern frühere Aufnahmen wieder hörbar werden – doch das bleiben Ausnahmen. Tontechniker, die mit den kompensierten Dateiformaten von CDs und mp3-Files ringen, weil diese für den Menschen nicht hörbare Tonlagen automatisch unterdrücken, schätzen die breite Aufnahmequalität von Kompaktkassetten. Und sie weisen darauf hin, dass ein Tonband immer noch gute Klangergebnisse liefert, wenn es sich erst einmal richtig „eintaumeln“ konnte, womit die Suche nach dem idealen Abstand zum Tonkopf des Kassettenrekorders gemeint ist.

Als die Kompaktkassette in den neunziger Jahren von der CD abgelöst wurde, führte das für die Musikindustrie nicht zum Zusammenbruch von Geschäftsmodellen. Ein solcher Einbruch sollte sich erst mit der übernächsten Generation von Audioformaten einstellen, die wie mp3-Files datenreduziert für die Internetübertragung geeignet waren. Die Kompaktkassette ging so leise, wie sie gekommen war und wie man es von guten Freunden nicht anders erwartet.

Christian Horn ist Journalist und arbeitet derzeit in der Deutschen Nationalbibliothek

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