Eine Braunkohlelandschaft an der brandenburgisch-sächsischen Grenze, militärisches Sperrgebiet, und das Kraftwerk Schwarze Pumpe. Viele zieht es weg aus der Oberlausitz, ein paar junge Potsdamer aber suchen in dieser Gegend die Freiheit. Auf ihrem Hof auf dem Land dient ein selbstgezimmerter Bretterverschlag als Außentoilette, wenige Schritte entfernt von einem alten, unfertigen Bauernhäuschen, in einer kleinen Senke, die nur halb so groß ist wie ein Fußballfeld. Gegenüber dem Häuschen verrottet eine alte, fensterlose Fabrikruine, eine ehemalige Baumwollspinnerei. Aus dem Kamin des Häuschens steigt Rauch auf. Drin steht Friederike Böttcher, 30 Jahre alt, am alten Herdofen in der Küchenstube und bereitet das Frühstück zu. Die Küche ist ein enger, dunkler Raum mit hölzerner Arbeitsfläche, auf der sich Antipasti-Gläser aneinanderreihen. Jetzt sind sie gefüllt mit Haferkörnern und Kleie. Es gibt noch einen Esstisch und eine Couch. Mit der kleinen Kornquetsche zerdrückt Friederike Böttcher die Körner zu Flocken und verkocht sie zusammen mit Milch auf dem Herd zu Brei. Überall riecht es nach Samen, Körnern, Getreide.
Friederike Böttcher ist eine kleine, zierliche Frau, sie trägt eine Brille mit dunklem Gestell, die braunen Haare zum Zopf gebunden und befeuert mit kleinen Ästen den Ofen. Auf den Rücken hat sie ihre zweijährige Tochter Helene geschnallt. Wenn man sie nach der Toilette fragt, reagiert sie cool, ihr sei das nicht unangenehm. „Ich finde das Zur-Toilette-Gehen hier viel freier. Inzwischen habe ich manchmal sogar Probleme mit normalen Wasserklos in geschlossenen Räumen. Das ist alles eine Frage der Gewohnheit“, sagt sie.
Mit ihrer Stadtflucht sind die jungen Potsdamer Teil einer Gegenbewegung, denn viele Deutsche treibt es zurzeit in die Metropolen. „Die Städte verzeichnen gerade unter jungen Leuten exorbitante Zuwächse“, hat Marc Redepenning, Professor für Geografie an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg, herausgefunden. Wer die Stadt verlasse, gehöre eher zu den Ausnahmen. Die Fachliteratur nennt sie back-to-the-landers – Leute, die zurück aufs Land gehen. „Diese Menschen suchen sehr bewusst abgelegene Gebiete auf, um da eine Form von Selbstverwirklichung zu finden“, sagt Redepenning. Nur dort könnten sie sich den Platz leisten, den sie brauchen, um ihre Utopien vom gemeinschaftlichen und ökologischen Leben zu leben.
Friederike Böttcher lebte bis 2011 in Potsdam, wo sich die Lehramtsstudentin immer unfreier fühlte. „Ich habe angefangen, darüber nachzudenken, wo mein Essen herkommt und was mit dem Strom ist.“ Friederike Böttcher konnte das nur bedingt kontrollieren, ihre Vorstellungen von einem umweltbewussten Lebensstil nicht so umsetzen, wie sie wollte. Sie war erst Anfang 20, spürte aber, dass sich etwas ändern musste. Und das Leben, das sie führen wollte, gab es nur auf dem Land. So sahen das auch ihr Freund Adrian Rinnert und ein befreundetes Paar, Ursula Eichendorff und Matthias Hermstein. Sie wollten weniger Ressourcen verschwenden, bedürfnisarm leben, nicht auf Erwerbsarbeit angewiesen sein, sich selbst versorgen. Fehlte nur noch der passende Ort.
Eines Tages stieß Adrian Rinnert auf ein kleines Tal-Grundstück in der Lausitz, fand das mit Bäumen zugewachsene Bauernhaus und die Ruine einer alten Baumwollspinnerei. 12.500 Euro, die Summe war für sie zusammen erschwinglich. Sie zogen also aufs Land. Mit romantischen Vorstellungen hatte das wenig zu tun, mehr mit Prinzipien: Selbstbestimmung, Selbstgenügsamkeit. Und mit dem Wunsch, sich von Technik und Konsum zu befreien. Wenn Friederike Böttcher kochen will, dreht sie nicht am Gashahn oder E-Herd, sondern muss mit abgestorbenen Ästen und Zapfen den Herdofen befeuern. Für ein warmes Bad bringt sie eine Stunde zuvor das Holz für den Wasserboiler zum Brennen. Elektrische Geräte werden nur im Notfall benutzt. Das meiste wird von Hand erledigt. Es erinnert ein bisschen an das Leben der Amish People, die in den USA und Kanada leben wie vor Hunderten Jahren, technische Errungenschaften ablehnen und strengen Verhaltensregeln folgen.
Auf der Baustelle
Als die deutsche Gruppe vor fünf Jahren in dem Talkessel ankam, fand sie einen unwirtlichen Ort vor. „Es gab keinen Strom, kein Telefon. Nur einen Wasseranschluss, bei dem wir nicht wussten, ob das Wasser trinkbar ist“, sagt Friederike Böttcher. Sie hausten sechs Monate in der Fabrikruine. „Wir sind im März noch bei Minusgraden aufgestanden, haben Haferbrei gekocht, in Decken gegessen, und dann ging’s ans Arbeiten, um warm zu werden.“ Vor dem ersten Winter musste das Haus bewohnbar sein, neue Fenster und Öfen wurden gebraucht. Monatelang warteten sie auf einen neuen Stromanschluss. Betonmischen, Bohren, Schrauben, vieles davon ging erst im Spätsommer und setzte sie zusätzlich unter Druck. Schließlich schafften sie es noch rechtzeitig. „Dieses Gefühl, auf einmal warm in einem windgeschützten Raum zu sitzen – das war toll!“
Halbe Wende
Osten ist in. Endlich. Nachdem kurz nach der Wende 1,8 Millionen überwiegend junge und qualifizierte Menschen die neuen Bundesländer fluchtartig verlassen haben, ist die Abwanderung in den letzten Jahren zum Erliegen gekommen. Zu diesem Ergebnis kam die Studie Im Osten auf Wanderschaft des Berlin-Instituts.
Dresden, Leipzig, Erfurt, Jena – was bei jungen Menschen noch vor wenigen Jahren als unlebenswert und trist galt, genießt heute einen Ruf als hippe Studentenstadt. Die Ostmetropolen sind die Profiteure eines bewusst herbeigeführten Strukturwandels der Politik, die in der Vergangenheit eine Menge Geld in die Hand genommen hat, um die Städte aufzuwerten. Doch des einen Freud, des anderen Leid. Die steigende Attraktivität der Oststädte ist gleichzeitig Katalysator für die anhaltende Landflucht. Während 15 Prozent der ostdeutschen Gemeinden in den sechs Jahren zwischen 2008 und 2013 Einwohner durch Zuwanderung hinzugewonnen haben, verliert der Rest weiter an Bevölkerung.
Denn auch die jungen, gut qualifizierten Ostdeutschen zieht es vom Land weg in die Städte – und nicht mehr zurück. So schrumpft das Angebot an Gütern des täglichen Bedarfs, Verkehrsanschlüssen und medizinischer Versorgung in der Peripherie weiter, weshalb auch viele alte Menschen folgen. Aufhalten lässt sich die Entwicklung nicht mehr, heißt es in der Studie. Bartholomäus von Laffert
Das Wohnhaus ist längst nicht fertig renoviert, nur das Zimmer von Friederike und Adrian und die Küchenstube sind bereit. Im Flur und im Bad fehlt bis heute der Boden, Paletten dienen als Ersatz. Überall ist es staubig und schmutzig, das Haus ist eine Baustelle. Und wird es noch jahrelang sein, denn die Potsdamer machen alles selbst, Mauern hochziehen, Dächer decken, Böden verlegen. Sie kaufen keine neuen Baustoffe, Dachziegel und Backsteine stammen von Häusern und Scheunen aus der Umgebung. Als die abgerissen werden sollten, trugen sie sie ab, schlugen den Putz von den Steinen und verwendeten sie wieder. Fenster und Holz bekam Adrian Rinnert, weil er im Nachbardorf beim Bauen half. Kürzlich haben sie bei einem Maler in der Nähe angerufen und nach Lackresten gefragt, er hatte noch welche. Weil es immer nur wenig Farbe gibt, haben die Fenster und Türen unterschiedliche Blautöne. „Wir versuchen, aus der Not eine Ästhetik zu machen“, sagt Friederike Böttcher.
Dabei sind die Rollen klassisch verteilt: Die Frauen kümmern sich um Garten, Buchhaltung und die Küche. Das Bauen übernimmt Adrian Rinnert, der einzig verbliebene Mann. „Wir hatten nicht damit gerechnet, wie sich die Dynamik zwischen uns entwickeln würde“, mehr will Ursula Eichendorff darüber nicht erzählen. Sie ist mit 34 Jahren die Älteste, die aschblonden Haare trägt sie als Zopf. Während bei ihnen immer klar gewesen sei, warum sie all die Strapazen auf sich nehmen, habe Matthias gezweifelt. „Am Ende hat sich nur noch die Frage gestellt, ob drei Leute zerbrechen und gehen oder einer.“ Matthias Hermstein stieg aus.
Neben dem Tagebau
Auch die beiden Frauen haben sich anfangs gestritten. „Wenn man so ein Projekt zusammen macht, ist man in vielen Bereichen aufeinander angewiesen. Da geht man schon ganz krass an die eigenen Grenzen. Wir teilen ja existenzielle Bereiche.“ Jeder musste zuerst sehen, wo sein Platz in der Gemeinschaft ist, wer welche Tätigkeiten übernimmt. „Wir mussten zunächst die Verantwortlichkeiten klären“, sagt Friederike. „Das war ein Prozess über mehrere Jahre, der sich erst jetzt richtig eingependelt hat.“
Die back-to-the-landers kommen über die Runden, auch wenn keiner von ihnen erwerbstätig ist (oder Hartz IV bezieht, was sie aus moralischen Gründen ablehnen). Nur das Kindergeld kommt vom Staat. „Das sind für uns aber echt hohe Summen“, sagt Friederike Böttcher, „wir haben wirklich geringe Kosten, weil Adrian jeden Cent umdreht.“ Von einem Spremberger Bioladen beziehen sie das übrig gebliebene Brot.
Adrian Rinnert tritt durch die Tür, eine hünenhafte Gestalt, ebenfalls 30, mit dichtem blonden Haar und Vollbart. Er trägt eine alte Jogginghose und ein Anti-Braunkohle-Shirt mit der Aufschrift „Baggern verboten“. Nur wenige Kilometer vom Haus entfernt betreibt Vattenfall den Tagebau Nochten, die Folgen sind auch am Flüsschen Struga zu sehen, das am Grundstück entlangplätschert, es ist mit Aluminium verseucht. Jahrelang verfolgte Vattenfall Pläne, den Tagebau um das Gebiet Nochten II zu erweitern, dagegen kämpfen die Selbstversorger seit Jahren. Mit ihrem Widerstand haben sie sich in der Gegend nicht nur Freunde gemacht, viele Bewohner des nahe gelegenen Dorfs Neustadt leben vom Tagebau. Zweimal sprengten Unbekannte nachts den Briefkasten. In der Hofeinfahrt wurde Müll verstreut. Adrian Rinnert will sich mit niemandem anlegen, man veranstaltet auch Tanzabende oder Workshops auf dem Hof, für selbstgemachten Aufstrich zum Beispiel. Und was treibt Rinnert zu diesem Leben? „Ein diffuses Schuldgefühl“, sagt er, „in der modernen Welt geht ja alles nur noch auf Knopfdruck. Kaum jemand kann Dinge noch von Hand erledigen. Was der Körper nicht selbst leisten kann und nur durch elektrische Hilfe funktioniert, ist eigentlich erschlichen.“ Künstlicher Energieverbrauch habe Folgen, und wenn er mal einen Akkuschrauber benutze, sei das Gefühl da: „Gerade bescheiße ich wieder ein bisschen.“ Rinnert sammelt sogar die rostigen Nägel aus der Ofenasche, um damit Rankhilfen für die Erbsen zusammenzuschrauben. „Man hat immer die Möglichkeit, sich zu entscheiden: Ich kann glücklich werden mit mehr, oder weil ich nicht so viel habe.“
Adrian Rinnert träumt davon, dass viele Leute einen ähnlichen Schritt wagen. „Wir haben Briefe bekommen, in denen steht: Ihr lebt meinen Traum, ich trau mich nur nicht. Da haben wir zurückgeschrieben: Fang doch einfach damit an.“
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.