Den meisten Zuschauern geht es lediglich um den großen Knall. Zehntausende drängen sich an diesem Sonntagvormittag auf den Straßen im Frankfurter Stadtteil Bockenheim, Schaulustige und Spreng-Spotter, angereist, um mitzuerleben, wie auf Knopfdruck ein 116 Meter hoher Betonkoloss in sich zusammenfällt wie ein leerer Sack. In der Masse tummeln sich jedoch auch jene, die nicht die bloße Lust am Spektakel hierher getrieben hat. Sie sind gekommen, um Abschied zu nehmen von einem prägenden Ort ihrer persönlichen und der kollektiven Geschichte. Es ist eine letzte Ehrerbietung, mit Gefühlen zwischen Wehmut, Trauer und bitterem Zorn.
Der Frankfurter Uni-Turm war immer schon ein mächtiges Symbol, weil er in jeder Hinsicht herausragte. Als er 1973 eröffnet wurde, war er das höchste Gebäude der Stadt und das Fanal einer fulminanten Bildungsexpansion. Seine Architektur: brutaler Ausdruck der kühlen Technokratie jener Tage. Der Einzug der Fachbereiche Erziehungs- und Gesellschaftswissenschaften auch ein Statement, wie hoch diese Fächer damals im Kurs standen. In den 37 Stockwerken bezog eine Riege junger und linker Professoren ihre Stellungen. Eine neue Zeit konnte beginnen.
Die Kraft der Theorie
Trotz seiner Größe war der Turm schnell zu klein. Nichts verkörperte den Ansturm auf die Sozialwissenschaften und den entstehenden Massenbetrieb so sehr wie die Überforderung der sechs winzigen Aufzüge, die täglich Tausende in die Höhe befördern mussten. Vier Jahrzehnte lang zog der Turm Studierende magnetisch an, sie wurden angelockt vom kritischen Geist und aufmüpfigen Gestus des Ganzen. Man glaubte an die Kraft der Theorie und daran, durch intellektuelle Auseinandersetzung die Welt verändern zu können.
Tatsächlich wurde im Turm nicht einfach Politologie, Soziologie oder Pädagogik studiert. Es wurden Haltungen erzeugt und Identitäten geformt. Spätestens nach drei Semestern hatte man entweder die Flucht ergriffen – oder man war überzeugter historischer Materialist, kritische Theoretikerin, Tiefenhermeneutiker, Feministin, Post-Freudianer, Strukturalistin oder zumindest IB’ler geworden. Für einige war damit auch klar, wen sie im Aufzug noch zu grüßen hatten und wen nicht.
Doch die theorielastigen Inhalte waren nur das eine. Zum „Turm“ wurde der Uni-Turm, weil er ein weitgehend regel- und kontrollfreier Raum war, ein Gegenentwurf zu all dem, was man aus der Schule kannte und über eine Hochschule zu wissen meinte. Hier zu studieren bedeutete, mit einem verstörend hohen Maß an Freiheit konfrontiert zu werden. Niemand sagte, was man zu tun hatte. Schon den richtigen Seminarraum zu finden, erforderte vortreffliche Selbstorganisation. Das ließ viele verzweifeln. Andere aber packten die Gelegenheit beim Schopf und probierten aus, was Autonomie und selbstbestimmtes Lernen bedeuten konnten. Man eignete sich das Gebäude an, organisierte eigene Veranstaltungen, betrieb studentische Cafés, feierte wild, debattierte hitzig und überzog jede Wand von oben bis unten mit Parolen.
Wann immer ein Hochschulstreik ausbrach, wurden hier die Treppenhäuser verriegelt, die Aufzüge blockiert und damit der gesamte Betrieb stillgelegt. Ein Happening, jedes Mal wieder. Die Studienordnung ermöglichte all das. Die formalen Anforderungen waren so mager, dass man das Diplom oder den Magister nach fünf Semestern in der Tasche haben konnte. Aber warum sollte man? Also blieb man 13, 14 Semester, im Bewusstsein, dass man nie wieder so viel Freiraum haben würde.
Mehr als Ausbildung
Natürlich war das Ganze ziemlich überspannt. Letztlich aber wurde im Turm Ernst gemacht mit dem, was die Bildungsreform an Versprechungen mit sich gebracht hatte: dass Bildung mehr ist als Ausbildung, dass Nachdenken Zeit braucht und dass die Gesellschaft kritische Geister verdammt nötig hat. Man kann es auch so sagen: Der Turm war die radikalste Auslegung jener Art von Hochschule, die drei Jahrzehnte lang die akademische Bildung dominierte: ein Massenbetrieb mit demokratisch-emanzipatorischem Geist, der hier besonders links und aufgeregt, chaotisch und trashig, ernsthaft, leidenschaftlich und ungemein frei und produktiv gelebt wurde. Der Turm – ein Kind seiner Zeit, aber eben das lauteste und auffälligste.
Vergangene Zeiten. Vor einigen Jahren hat die Universität sich aus Bockenheim verabschiedet, um sich auf einem ehemaligen IG-Farben-Gelände anzusiedeln, einem umzäunten, parkähnlichen Campus-Areal. Passenderweise waren die Erziehungs- und Gesellschaftswissenschaften die letzten, die man in die neue Uniwelt mit ihren Neubauten, straffen Curricula und Exzellenambitionen herübergeholt hat.
Damit hatte der Turm ausgedient. Aber er stand noch, ein Relikt, zuletzt nur noch eine Ruine. Doch wer Frankfurt und seinen Drang, jeden Quadratmeter in Wert zu setzen, kennt, wusste, dass das nicht so bleiben würde. Neue Bürohochhäuser sind längst in Planung. Als der Entschluss fiel, den Turm zu sprengen, mag das pragmatisch motiviert gewesen sein. Es war aber wiederum ein starkes Symbol: Mit voller Wucht würde ein Ort und die Erinnerung an das, was er bedeutete und ermöglichte, auf einen Schlag ausgelöscht.
Um 10.04 Uhr werden an diesem Sonntag die Sprengladungen gezündet und der Turm in die Knie gezwungen. In Sekundenbruchteilen stürzen die 37 Stockwerke in sich zusammen. Als sich 20 Minuten später die Staubwolken verziehen und sogar die Sonne herauskommt, zeigt sich, was bleiben wird: eine gewaltige Leere.
Im Vorfeld der Sprengung wurde über das Risiko diskutiert, dass sich nach der Abtragung des Schutts das fehlende Gewicht des Turmes ungünstig auf die Erdschichten im Umfeld auswirken könnte. Das wäre es dann noch: Wenn der Turm im Moment seines endgültigen Verschwindens die Fundamente der schönen neuen Welt ins Wanken brächte.
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