Von der Kristallstraße geht die Diamantstraße ab, die sich in die Smaragdstraße verbiegt. Von der Smaragdstraße zweigt erst die Rubin-, dann die Opalstraße ab, beide münden oben wieder in die Kristallstraße. Vom Onyxplatz am Ende der Opalstraße geht rechts die Achatstraße ab, und dann ist die Siedlung Ludwigsfeld auch schon zu Ende. Größer ist die Welt nicht. Vom Okzident in den Orient sind es hier manchmal nur zehn Meter. Früher gab es noch die Saphir- und die Turmalin- und die Topasstraße. Aber das ist eine andere, eine viel traurigere Geschichte.
Der Freitagabend im Café Kastaniengarten ist schon etwas vorgerückt, als dem Kalmücken Dschirgl Delekajew, während zwei aserbaidschanische Familienväter zu türkischer Musik tanzen, die Tränen in die Augen treten. Er nimmt die Brille ab und lässt sich umarmen von »Olli« Krmadijan, dem Armenier mit der thüringischen Mutter, der auch in der Kneipe sitzt und Geschichten erzählt. Es fließen noch mehr Tränen an diesem Abend, innere und äußere, trockene und stille.
Nico Romanow, Sohn eines Kalmücken und einer jugoslawischen Mutter, weint Tränen eines Trauernden, der 1956 mit 19 Jahren von Ludwigsfeld nach Chicago auswanderte und nach über 40 Jahren für einige Tage hierher zurückkam - wo das war, was er »sein Leben« nennt und kein Fremder jemals ermessen kann. Auf dem großen Tisch der Kneipe stehen Weißbier und Tee, Börek und frittierte Zucchini. Der Koch im Kastaniengarten ist Türke, der Kellner Kurde, und alle machen plötzlich großes Bohei. Wenig später nämlich, kurz bevor Mischa - der russische Atomphysiker - eintrifft, der wunderbar Klavier spielen kann und mehrere Persönlichkeiten besitzt, schwankt Vladimir Jalowetz in den mit Heiterkeit gefüllten Gastraum des Kastaniengartens - ein großer, blonder Mann, er lacht und feixt. »Jalo« ist West-Ukrainer und sonst ein ruhiger Mensch. Am Freitagabend aber, als dieser allmählich in die Nacht einrückt, da ist »Jalo« herrlich betrunken, und Dschirgl hält alle Szenen mit dem Fotoapparat fest, kopfschüttelnd-gerührt, und manchmal packt ihn das entwaffnende Gefühl, und seine Brille beschlägt von innen.
Wie Nico Romanow ist auch der Kalmücke Dschirgl Delekajew zu Besuch aus Amerika gekommen. Er kommt, so oft es geht. Einst ging er weg, um Berufssoldat zu werden, war in Vietnam und Korea, wurde verwundet und trug in sich stets die große Sehnsucht. Die Siedlung Ludwigsfeld ist mehr als die Welt. Sie ist sein Leben. 300 mal 300 Meter groß ist das Stück Erde, das der Kalmücke Dschirgl ewig lieben wird, weil hier nie etwas anderes zählte als das reine Menschsein. Alle waren hier gleich - egal woher sie kamen.
Durch die Erlen und Eschen flieht nachtkalter Novemberwind, und die Kronen der Bäume, weit droben, schaukeln im Takt der Böen. Vertrocknete Blätter rascheln und wirbeln durch die Luft wie vergnügte Vögel. Unterscheidbar sind die 32 Blöcke von Ludwigsfeld nur an ihren Nummern. Die Türen sind offen. Fahrräder stecken in Ständern. Es riecht nach Regen, der nicht kommt, und der Abendwind weht welke Blätter über den Onyxplatz. Vor dem Feinkostladen von Giuseppe Virruso kommen sie endlich zur Ruhe. Averna, Grappa, Ramazotti hat er im Schaufenster. Hinten gibt es Cabernet und Orvieto, eine Espresso-Maschine, und seit neuestem verkauft Giuseppe Briefmarken und Telefonkarten.
Die traurige Geschichte dieser Siedlung am Ende der Welt endete, als es die Saphir-, Turmalin- und Topasstraße noch gab und im April 1945 die Amerikaner kamen. In Holz- und Steinbaracken, die einmal Pferdeställe waren, lagen ausgemergelte Menschen, die meisten von ihnen im Sterben. In der Siedlung Ludwigsfeld waren Arbeitssklaven der SS interniert - zwischen 1943 und 1945 war hier das »Außenlager Allach 1« des Konzentrationslagers Dachau. Als die Amerikaner eintrafen, lebten von etwa 22.000 Inhaftierten noch 8.970 Männer und 1.027 Frauen. 300 Menschen hausten in einer Baracke - Zwangsarbeiter für die Bayerischen Motoren-Werke BMW, deren Fabrikhallen vis-à-vis standen, über die Dachauer Straße rüber.
Zu den befreiten Zwangsarbeitern kamen Kriegsgefangene und Flüchtlinge und jene, die heimatlos waren. Menschen, die aus dem Osten verschleppt wurden, typische Ludwigsfeld-Biografien, typisch für den kleinen Ort zwischen München und Dachau, in dem heute 1.000 Menschen die vererbten Ideale leben. Und in dem die erste mit der vierten Generation auskommt und keiner weg will.
Der Donkosakensohn Boris Kuberlinow meldet sich zur Wehrmacht
Er hat hochgeschnittene Jochbeine und lacht herzlich, dass die Augen zum Strich werden. Geboren wurde er 1923 in der Salzsteppe Russlands. Er ist Don-Kosake, er ist Kalmücke. Er heißt Boris Kuberlinow. 1929 verlor er seine Eltern. Sein Vater war Hauptmann der Don-Kosaken im Garderegiment des Zaren. Stalin ließ ihn erschießen. Stalin ließ auch seine Mutter erschießen. Boris - Sohn eines »Volksfeindes« - ging zu Verwandten, die man später nach Sibirien verschleppte. 1943 wurde er mit 200 Kalmücken, Kaukasiern, Russen von der Straße aufgelesen und in einen Güterwagon gepfercht - Fahrtrichtung »Deutsches Reich«.
Boris, der »Iwan«, wie alle »Iwans« hießen, die aus dem Osten kamen, wurde Knecht eines österreichischen Bauern. Als die Rote Armee schon vor Breslau lag, meldete er sich aus Angst freiwillig zur Wehrmacht, kam auf die Junkerschule nach Norditalien, floh vor den Amerikanern ins Gebirge, dann über Salzburg ins Kalmückenlager bei Altenstadt und schließlich in eine ehemalige SS-Kaserne, die ein Sammellager war. Von dort schickte man ihn nach Schleißheim, ins nächster Lager. Dort lebte die Kommunistentochter Margareth aus Jena, deren Vater mit Ernst Thälmann im KZ saß. Und Nico Romanow und Dschirgl Delekajew, Milan Sovic und Hans Thiel, Anusch und Olli Krmadjian waren in Schleißheim gestrandet - all jene, mit denen Boris Kuberlinow ab 1952 die Vereinten Nationen von Ludwigsfeld gründete und damit den Himmel neu erfand. Sie waren heimatlose Ausländer - hard-core displaced persons mit deutschem Pass und ohne Wahlrecht. Viele der aus dem Osten stammenden Zwangsarbeiter und Flüchtlinge, die der Krieg noch lebend ausgespuckt hatte, waren krank und durften nicht, manche waren gesund und wollten nicht in die USA oder nach Neuseeland auswandern, wie man anfangs dachte. Sie hatten alles verloren, aber sie besaßen ein gemeinsames Schicksal, waren Opfer der gleichen Tragödie, des gleichen Wahns - deshalb wurde die Siedlung Ludwigsfeld für sie zum Paradies.
Am Samstag um 20.30 Uhr spielt »Olli« Krmadjian - der schneidezahnlose Armenier - der so lange Theaterleiter war und Sozialarbeiter und Mitglied der rock'n'rollenden »Jaguars«, einer der beiden Siedlungsbands, - »Olli« also spielt in der Ludwigsfelder Einkehr, der ehemaligen SS-Mannschaftskantine, der letzten noch existierenden Originalbaracke aus der Zeit vor 1945.
Und die polnische Witwe Johanna twistet mit dem waschechten Russen Vitali neben Napsu, der großgewachsenen Kalmückin, die den bayerischen Kalmücken Gaga Iwanow umtänzelt, dass es eine Freude ist. Nico Romanow wiegt die Hüften und filmt das Glück ohne Unterlass. Alle singen »Corinna« und »Wully Bully«, und sie klatschen begeistert. Es ist die spontane Abschiedsparty für Dschirgl, der morgen zurück in die USA geht, nein: muss, und es blüht die übliche Ludwigsfelder Ausgelassenheit unter den Silberfolien, die an der Decke hängen. Hier hörte man ukrainische und russische Musik, armenische und baltische. Man roch gekochte Kalbsköpfe und Hammel, sah ukrainische und kalmückische Volkstänze, erlebte russisch-orthodoxe Hochzeiten, armenisch-gregorianische Taufen, aserbaidschanische Beschneidungsfeste und lettische Johannisfeuer.
Der Donkosakensohn Boris Kuberlinow heiratet die kluge Margareth
Als die neuen 640 Ludwigsfelder Wohneinheiten mit Marshallplan-Geld dort gebaut waren, wo gerade noch die Holz- und Steinbaracken des Zwangsarbeitslagers der SS standen, zogen die Heimatlosen in Ein-, Zwei- oder Dreizimmerwohnungen, in denen das Wasser an den Wänden hinablief. Es gab kein Bad und keine Heizung. Es herrschte Öde. Es blieb Fremde. Und nebenan zogen Deutsche ein, von denen man wusste, dass sie Nazis waren, dass sie im Außenlager »Allach 1« Dienst taten. Und nun Nachbarn waren. Irgendwann kam man ins Gespräch, und dann flossen auch Tränen der Reue. 2.025 heimatlose Ausländer und 873 Deutsche zogen ab Dezember 1952 in 640 Wohnungen, die noch heute dem Bundesvermögensamt gehören. Alles war kahl, keine Geschäfte, keine Straßen, keine Bordsteine.
Es lebten hier die heimatvertriebenen Volksdeutschen aus dem Banat, der Batschka, aus Ostpreußen, Pommern, Schlesien, Siebenbürgen, dem Sudetenland und von der Wolga. Es beteten Buddhisten, Zeugen Jehovas, Juden, Muslime und alle Arten von Christen: armenische, gregorianische, baptistische, evangelisch-lutherische, griechisch- und römisch-katholische griechisch, serbisch und ukrainisch Orthodoxe. Es vereinten sich 22 Nationalitäten und 13 Religionsgemeinschaften zu einer waghalsigen Utopie: Gemeinschaft statt Spaltung.
Bis 1961 waren alle Ressentiments offen gelegt und ausgesprochen. Da gab es keine Schießereien und Messerstechereien mehr, nur ab und an Prügeleien, bis sie alle Wodka tranken und sich in den Armen lagen. All die menschlichen Probleme, sagen die Ludwigsfelder, wurden einst im Schnelldurchlauf erlebt, durchlitten und gelöst, in der manchmal klammen Enge und unerträglichen Nähe dieser Siedlung, abgeschieden und von draußen mit Skepsis, manchmal mit arroganter Verachtung bedacht. Die Siedlungsbewohner rauften sich zusammen, weil sie es mussten - 1969 machte in Ludwigsfeld sogar die Polizeidienststelle zu.
Der Donkosakensohn Boris Kuberlinow heiratete schließlich die kluge Margareth aus Jena im Lager Schleißheim, sie bekamen ihre Tatjana und zogen in die Achatstraße. Margareth war Dolmetscherin, sprach sechs Sprachen und wurde eine der Integrationsfiguren in Ludwigsfeld. Nächtelang saßen sie mit den anderen zusammen, mal hier, mal dort, in west- und ostukrainischen Wohnungen mit Altären und Ikonen, in russischen mit den hohen Federbetten, in lettischen, den nordisch-kargen mit gehäkelten Deckchen. Die Kinder wuchsen auf und behaupteten bald, dass sie »einen eigenen Ludwigsfelder Deutsch« hätten, ihren eigenen Akzent, den nur sie erkennen. Doch eines - sagen sie - hätten sie nicht: eine Identität. Sie sind Ausländer in einem Land, das bis heute kalt geblieben ist.
Der Donkosakensohn Boris Kuberlinow hat den Schlüssel zum buddhistischen Tempel
Die Rubinstraße ist wie alle Straßen nicht besonders lang. Nummer 124. Hier also wohnen Kuberlinows. Selbst bei schönster Sonne sind die Zimmer dunkel, Licht brennt immer. Boris hat den Schlüssel zum buddhistischen Tempel Ludwigsfelds. Er befindet sich im Nebenhaus, Nummer 16, darüber wohnen Ukrainer und Serben, daneben Polen und Deutsche. Der buddhistische Tempel ist ein mit wertvollen Seidengemälden geschmücktes Ludwigsfelder Wohnzimmer. Drei selbstgefertigte Throne aus Holz stehen hier, auf dem Steinaltar sind Kerzen und im Schrein steht eine Buddha-Statue. Man riecht kalten Weihrauch. Es ist kühl. Lange Jahre zelebrierte ein kalmückischer Lama den Gottesdienst an den Feiertagen, zum Jahreswechsel, zu Halb- und Vollmond, dann wurde es ein tibetischer, und zweimal war Seine Heiligkeit der Dalai Lama schon zu Gast.
Manchmal feierten in Ludwigsfeld die Religionen auch zusammen ihr Neujahr, und die Kinder der siedlungseigenen Schule hatten gleich an mehreren Tagen frei. Toleranz galt stets als Seele des Seins. »Meine Heimat«, wieder Tränen, »ach, meine Heimat«, sagt auf der blätterbedeckten Smaragdstraße Nico Romanow, der mit 19 Jahren nach Chicago ging.
Nichts deutet an diesem ruhigen Abend, als in der Einkehr die Vereinten Völker zum »Calender girl« singen, darauf hin, dass sich im Zentrum der Welt je etwas ändern wird, während draußen im Halogenlicht der kleinen Laternen vergnügt die Ludwigsfelder Motten in den nächsten Morgen tanzen.
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