Zehn Jahre und zwei Krisen hat es gedauert, bis Sven Grzebetas Doktorarbeit zum Abschluss gekommen ist. Nach der geplatzten Dotcom-Blase fing er an zu recherchieren. Jetzt, im sechsten Jahr der Finanzkrise, liegt seine Arbeit als Buch vor. Das Interessante daran: Ethik und Ästhetik der Börse wurde von einem Insider geschrieben, der als Produktentwickler und sogenannter Innovationsmanager, wie es im Klappentext heißt, seit 2000 für die Deutsche Börse AG tätig ist und in diesen Funktionen vielfältigen Einblick in System, Struktur und Soziologie des heutigen Börsengeschehens nehmen konnte.
Zehn Jahre und zwei Krisen, die Zeit hat sich in dieses Buch eingeschrieben. Mit publizistischen Knallfröschen von Sinn bis Sarrazin hat Grzebetas Werk nichts gemein. Es ist kein Ratgeber, kein schnell konsumierbares moralinsaures Manifest, sondern, im Gegenteil, eine subtile Abrechnung mit dem Geschwätz der „Experten“. Bei Grzebeta stehen Sätze wie: „Vernünftige moralische (und erst recht ethische) Urteile setzen ein angemessenes Sachverständnis des Lebens- und Gesellschaftsbereichs voraus, auf den sie sich beziehen. Weil es in der Gesellschaft einen Mangel an Deutungskompetenz für den Funktionszusammenhang von Börse gibt, knüpft der öffentliche Diskurs an die impliziten moralischen Urteile der Repräsentation von Börse an.“
Mit dieser Repräsentation zielt der Autor auf die „ästhetische Vermittlung“, die eben nicht nur in künstlerischen Werken erfolgt (zuletzt etwa in Martin Scorseses The Wolf of Wall Street), sondern auch in populären Sachbüchern und zahllosen Zeitungsartikeln, die uns das Finanzsystem erklären. Genau diese Vermittlung zerlegt nun Grzebeta mit der Ruhe und der Kraft der Analyse, um zu dem nüchternen Schluss zu kommen, dass das ästhetisch vermittelte Bild von Börse neben dem liegt, was Börse eigentlich leistet. Eine einfache und gleichzeitig anspruchsvolle Erkenntnis, denn sie stellt Grundsätzliches in Frage.
Blasen, Hebel, Herdentrieb
Das Ganze beginnt bereits mit den in der Berichterstattung gebräuchlichen Metaphern, „Blasen“, „Hebel“ und „Herdentrieb“ etwa, oder auch weit plakativer, den „Gurus“: Begriffe, die aus der Tierhaltung, der Naturwissenschaft, der Religion entlehnt sind und einen Eigenwert besitzen, der sich nolens volens auf die Rede über das Finanzgeschehen überträgt. Der „Guru“, so scheint es, huldigt dem Kult der „unsichtbaren Hand“, kennt die tief im Innern des Geldwesens verborgenen Geheimkräfte, er beschwört sie, ja, sie sind ihm hold, wie sein Erfolg doch zeigt. In der Tat: Solche „Gurus“ sind den Gestalten aus dem Märchen verwandt, in deren heimischer Garage der Goldschisser darauf wartet, angezapft zu werden. So ist man schnell mit Grzebeta d’accord, wie dümmlich-naiv solch Wortgebrauch doch ist. Umso erstaunter ist man dann beim Blick in die Erzeugnisse des heutigen Publikationsmarktes, wie verbreitet das Bild des „Gurus“ selbst dort ist, wo man sich seriöser Berichterstattung gegenüber glaubt. Kaum eine Zeitung oder Zeitschrift, die nicht mit Erfolgsstories (und Pleiten) von Managern, Brokern und Maklern daherkommt, dabei unhinterfragt die Mär vom „Guru“ perpetuiert.
Noch deutlicher wird die Diskrepanz zwischen Wesen und Vermittlung der Börse am Beispiel der Kunst. Im Falle von Emile Zolas Roman L’Argent (1892), in dem sich Börsenhändler schamlos bedrängen, mit Zeichen, Codes und Worten marktschreierisch überbieten, um am Schluss ebenso dramatisch auf Verluste zu reagieren, scheint die Darstellung des Parketthandels noch einigermaßen mit der Realität übereingestimmt zu haben. Umso frappanter freilich Grzebetas Erkenntnis, dass die künstlerischen Topoi der Repräsentation von „Börse“ noch heute die des späten 19. Jahrhunderts sind. Auf Fotos (Andreas Gursky oder Martin Hielscher) und in Filmen (Wall Street, Rogue Trader) wird gebrüllt, gezockt, gehurt und gepokert wie im Raubtierkäfig – obwohl im echten Börsenleben seit Jahrzehnten fast alles lautlos über den Computer läuft.
Bank und Börse, so lernt man bei Grzebeta, sind eigentlich vollkommen undramatisch. Denn sie sind, idealtypisch gesprochen, einzig dem Zweckgedanken des effizienten Kapitalflusses untergeordnet. Statt also etwa „Charts“ – auch sie ästhetische Repräsentationen – als Fieberkurven zu interpretieren, sollte man eher einen kühlen Kopf bewahren, um zu erkennen, dass das Wesen der Finanzwelt hinter den Phänomenen der Oberfläche liegt. Das ist ähnlich wie auf dem Marktplatz, wo der schnöde Tausch von Ware gegen Geld durch eine Vielzahl von Bewegungen, Gesten, Worten begleitet wird: Trotz dieser vielgestaltigen sozialen Interaktion (die viele Marktgänger so schätzen) bleibt der Tausch immer das zentrale Ereignis, letztlich der Existenzgrund für den Markt überhaupt. So auch die Börse: Sie existiert, weil Anleger einen Ort oder eine Institution brauchen, um ihr überschüssiges Kapital gewinnbringend zu investieren und dabei mit Unternehmen zusammentreffen, die just jenes Kapital einsammeln, um ihre Produktion zu steigern. Was hier geschieht, ist nicht nur unspektakulär, es ist, so Grzebeta, für die ästhetische Vermittlung überhaupt nicht geeignet – anders als uns Kunst, Film oder Journalismus durch ihre Metaphern weismachen.
Kein Kapitalismus-Bashing
Wenn also damit die populäre Börsenkritik durch fehlgeleitete Ästhetisierung grundsätzlich ins Leere zielt, so ist dies Grzebeta Ansporn, einen eigenen Weg der Kritik zu finden. Voreiliges Kapitalismusbashing wird man dabei vergeblich suchen. Stattdessen hält der Autor ein sachliches Plädoyer für eine Ethik der Börse, die sich an der systemischen Effizienz messen lassen muss. Ihrer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe wird demnach nur eine Börse gerecht, die störungsfrei funktioniert – also beispielsweise ohne eigendynamisch betrügerische Wettbewerbsverzerrungen durch Insiderhandel. Nur wenn sich die in der Börse vereinten Menschen einem ethischen Grundkodex fügten, könne die Börse auch jene soziale Relevanz entfalten, die in ihrem Wesen begründet liege.
Es ließe sich nun an dieser Stelle bemängeln, Grzebetas Zugriff auf die Materie stünde dem Wohlstandstheoretiker Adam Smith und damit dem idealistischen 18. Jahrhundert weit näher als den seither entwickelten marxistischen und nachmarxistischen Positionen, die den real existierenden Kapitalismus und seine sozialsektiererischen Auswirkungen auf eine immer weiter auseinanderdriftende Gesellschaft als Grundlage für ihre Analyse nehmen. Zugute halten wird man dem Buch aber müssen, dass es den seriösen Versuch einer systematischen, systemimmanenten Börsenethik unternimmt – und das kann man selbst als Kapitalismusphobiker nicht einfach wegwischen.
Im Gegenteil: Grzebetas Position ist ein wunderbarer Anlass für eine nüchterne, breite und gesamtgesellschaftliche Diskussion über Börsen, Banken und Geld. Um diese oft bemängelte Debatte endlich anzuschieben, hat dieses gut strukturierte, klar formulierte Buch reichlich Potenzial.
Ethik und Ästhetik der Börse Sven Grzebeta Wilhelm Fink Verlag 2014, 379 S. 29,90 €
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