Was will der Imam?

Aufklärung Ein kolossaler Sammelband über Islam und Islamismus in Europa lädt ein, Vorurteile zu hinterfragen
Ausgabe 50/2014
„Islamic Movements of Europe“ - „of“ und eben nicht „in“, heißt das kompakte Handbuch
„Islamic Movements of Europe“ - „of“ und eben nicht „in“, heißt das kompakte Handbuch

Foto: Carl Court/AFP/Getty Images

In der sagenhaften Vielfalt seiner Strömungen ist der zeitgenössische Islam kaum zu durchschauen. Salafisten, Dschihadisten, Muslimbrüder, Kalifatstaat, Millî Görüş, Tablighi Jamaat, Laizisten, Pietisten, Mystiker, Süleymanlıs, Hizb ut-Tahrir, Diyanet – was das alles sei, woher es kommt und vor allem wie es einzuordnen sein mag, das lässt sich in einem kolossalen, von über 40 Autoren geschriebenen Sammelband nachlesen, und zwar mit Fokus auf jenem Teil der Welt, der bisher als Abendland bekannt war: Europa.

Islamic Movements of Europe, „of“ und eben nicht „in“, heißt das kompakte Handbuch mit über 70 Artikeln zu Organisationen, Persönlichkeiten und Problemfeldern des politischen Islam und der Islamophobie, konzipiert von Frank Peter und Rafael Ortega, zwei aufstrebenden Islamwissenschaftlern an den Universitäten von Bern respektive Granada.

Programmatisch sehen die Herausgeber den politischen Islam nicht einfach als Facette einer Weltreligion, sondern als ein im wahrsten Sinne globales Phänomen, das sich durch seine Auseinandersetzung mit der (westlich oder nichtmuslimisch geprägten) Moderne gebildet, gleichzeitig durch die (medialen) Errungenschaften eben dieser abgelehnten Moderne verbreitet hat. Dass sich hierdurch neben religiösen Enklaven auch politische Brückenköpfe zu anderen, weit entfernten Weltregionen bilden – etwa: der saudische Einfluss auf die Salafisten oder der staatstürkische Einfluss der Diyanet auf Exiltürken –, ist dabei eine der zahlreichen Facetten, die der Band beleuchtet.

Islamic Movements of Europe ist weit mehr als ein Kompendium für Spezialisten: es ist, recht begriffen, ein essenzieller Baustein zur politischen Bildung heute. In ihrer lexikalischen Knappheit, ihrer wissenschaftlichen Schärfe, ihrer allgemein verständlichen Sprache, ihrer begrifflichen Genauigkeit leisten die Beiträge all das, was man sonst schmerzlich vermisst. So schließen die Autoren jene klaffende intellektuelle Wunde, die durch Panikmache, Unwissen und Sarrazinaden aufgerissen wurde und ohne solch dringend nötige geistige Ambulanz immer weiter schwelt.

Haarsträubend komplex

Jedem halbwegs am Zeitgeschehen interessierten Menschen, vor allem aber jedem Zweifler an der Ausgeglichenheit, ja der Kompetenz aktueller journalistischer Berichterstattung sei daher dieser Band empfohlen. Er schärft den kritischen Geist und spornt an, allgegenwärtige Worthülsen wie „Terrormiliz“ oder „Islamismus“ zu hinterfragen.

Statt steiler Thesen und propagierter Meinungen strebt Islamic Movements of Europe die nüchterne, sachliche, ausgewogene Darstellung komplizierter Sachverhalte an: Wie ist Islamunterricht in Dänemark, Frankreich, Deutschland oder Holland geregelt? Woher kommen in den Ländern (und in den jeweils dort wirkenden islamischen Strömungen) die Imame? Gibt es in Europa Gemeinsamkeiten bei der politischen Radikalisierung von Muslimen? Welche Organisationen stehen hinter solchen Tendenzen? Welche Geschichte, welche gegenwärtigen Verbündeten haben sie? Auf diese Weise deckt Islamic Movements of Europe ein riesiges Themenspektrum ab, das vom muslimischen Alltag bis hin zu Kardinalfragen der Politik und Theologie reicht.

Oft sind die Antworten haarsträubend komplex und atemberaubend faszinierend, denn sie offenbaren, wie sehr der politische Islam von unentwirrbaren, gleichzeitig wirkungsmächtigen inneren Widersprüchen durchzogen ist. Gemein scheint den hier vorgestellten Strömungen, außer dem Glauben an den gleichen Gott, vor allem eines: dass die jeweils Anderen (Muslime inbegriffen) als kuffar gelten – als Ungläubige.

Islamic Movements of Europe. Public Religion and Islamophobia in the Modern World Frank Peter, Rafael Ortega (Hg.) I. B. Tauris 2014, 392 S., 24,16 €

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