Kein Weltuntergang

Peking Panik vor dem Virus? Nicht in Chinas Hauptstadt, lernt unser Autor auf Streifzügen durch seine Nachbarschaft
Ausgabe 06/2020

Peking, 2. Februar. Auch heute geht der erste Blick aus dem Fenster. Verdammt, das fehlte noch. Es hat geschneit. Sonst gibt es in Peking praktisch nie Schnee im Winter. Nur in diesem vertrackten Jahr schneit es jetzt schon das vierte Mal. Dabei hatte vor ein paar Tagen bereits eine Elster begonnen, in dem Baum vor meinem Fenster ihr Nest zu bauen. Sie war damit früh dran und hatte Hoffnung auf einen baldigen Frühling gegeben. Letztlich ist auch das Coronavirus ja nichts weiter als ein Grippeerreger. Und Grippewellen enden nun mal, wenn es wärmer wird. Doch damit ist es wohl erst mal Essig.

Auch die Zahlen sehen heute nicht rosig aus. Die Nationale Gesundheitskommission meldet am 2. Februar um exakt 6.24 Uhr morgens 13.831 mit dem Coronavirus Infizierte sowie 304 Tote. Das ist bei den Infizierten ein ziemlicher Sprung. Lagen diese in den letzten Tagen immer um zwischen 1.000 und 1.200 höher im Vergleich zum Vortag, haben sie sich von gestern auf heute nahezu verdoppelt. Allerdings fällt die Steigerung bei den Todeszahlen kaum ins Gewicht. Die lagen in den letzten Tagen bei 42 bis 43, jetzt sind wir bei 45.

Dabei gab mir gestern nicht nur die nestbauende Elster das Gefühl, dass es langsam wieder aufwärts geht. Bei meinem täglichen Spaziergang auf den Straßen Pekings waren wieder deutlich mehr Menschen unterwegs. Auch trugen sie weniger Atemschutzmasken als in den Tagen zuvor, was wohl an den milden Temperaturen lag. Eine erste kleine Bäckerei hatte wieder geöffnet, und auch einige Restaurants in der Guijie, der Ghoststreet, einer der traditionellen Fressmeilen Pekings. Drei Penner betranken sich wie gewohnt mit Sorghum-Schnaps und eine Frau spielte auf dem Bürgersteig selbstvergessen Squash gegen eine Hauswand. Ein Bild, fast wie in Friedenszeiten, wären da nicht die an die Schaufenster geklebten Flyer mit den Verhaltensmaßregeln im Seuchenfall und ein frisches rotes Banner gewesen, das die Bewohner Pekings zu Standhaftigkeit und Vertrauen ermahnt, wissenschaftliche Bekämpfungs- und Schutzmaßnahmen verspricht sowie obendrein noch irgendwelche „absoluten präzisen Maßnahmen“. Und natürlich die Leute mit den Masken.

Hohe Vermummungsquote

70 Prozent trugen gestern welche, in den Tagen zuvor waren es nach meinen Schätzungen bis 90 Prozent. In den U-Bahnen ist das Maskentragen inzwischen sogar Pflicht, auf der Straße – anders als in der Provinz Hubei und inzwischen auch in Guangdong – noch nicht. Ich trage auf meinen Spaziergängen auch eine – und zwar die gute 3M 9502VT, die nur fünf Prozent aller in der Luft umherschwirrenden Partikel durchlässt. Auf der Straße ist die Maske eigentlich nicht so wichtig, falls man zu anderen Passanten einen Abstand von 1,5 Metern lässt. Aber sie verhindert eben auch, dass man sich an Mund und Nase packt und sich auf diese Weise infiziert. Der Mensch fasst sich etwa 25-mal in der Stunde unwillkürlich ins Gesicht; so was lernt man während einer Seuche. In Räumen mit vielen Leuten – das sind in Moment eigentlich nur die Supermärkte – sollte man sie auf jeden Fall aufhaben.

Vielleicht noch wichtiger aber ist das Tragen von Handschuhen. Unterwegs ist man hin und wieder doch gezwungen, Türklinken oder Fahrstuhlknöpfe zu berühren, die als besonders große Infektionsquellen gelten. Man sollte möglichst Sporthandschuhe verwenden, da sie anders als Woll- und Lederhandschuhe nach dem Spaziergang problemlos gewaschen werden können. Aus demselben Grund trage ich ein zur Mütze gebundenes „magic headband“ sowie eine Brille. Die sollte man sich auch aufsetzen, wenn man nicht kurzsichtig ist, denn auch über die Augen kann man sich anstecken. Ich habe deshalb eine fette Sonnenbrille auf, was mein Outfit insgesamt leicht ins Berghaineske lappen lässt. Ein interessanter Nebenaspekt ist, dass durch eine solche Vermummung die allgegenwärtige Überwachung unterlaufen wird: Als meine Frau vor ein paar Tagen im Supermarkt mit ihrem Telefon bezahlen wollte, musste sie ihre Maske abnehmen, da ihr iPhone nur per Gesichtsscan entriegelt werden kann. Das lässt sich zwar schnell ändern, aber in anderen Fällen dürfte das nicht so einfach sein. Eine Frau berichtete auf WeChat, dass sie geschlagene zwei Minuten vor dem Eingangstor ihrer Wohnanlage stand und sich fragte, warum es nicht öffnete. Erst dann realisierte sie, dass sie eine Maske trug und ihr die automatische Gesichtserkennung den Zutritt verwehrte. Auch die Hochgeschwindigkeitszüge kann man hierzulande nur noch besteigen, wenn man sich am Bahnsteigzugang das Gesicht scannen lässt. Da gerade auf Bahnhöfen die Ansteckungsgefahr sehr hoch ist, kommen sich hier zwangsläufig Seuchenbekämpfung und Überwachung in die Quere. Das bestätigt einmal mehr meine alte These: Totalüberwachung gibt es nicht.

Meine Spaziergänge durch die Stadt unternehme ich, weil ich mich nicht auf die Informationen im Netz verlassen will. Ich nutze sie aber natürlich auch zum Einkaufen. Auch mindestens die Hälfte der anderen Passanten auf den Straßen ist mit ziemlich vollen Einkaufsbeuteln unterwegs. Obwohl sich die Leute ganz offensichtlich bevorraten, sind die Regale in den Supermärkten weiterhin gut gefüllt. Lediglich am Dienstag gab es in unserem WuMart einen Engpass an Gemüse, doch der war am Tag drauf sofort behoben. Inzwischen kann man sich eine offizielle APP aufs Handy laden, mit der es möglich ist, in seinem Supermarkt fehlende Güter zu melden. Der Mangel wird dann angeblich sofort behoben. Tatsächlich dürften aber nur wenige davon Gebrauch machen. Allein Desinfektionsmittel gehen langsam aus und Atemschutzmasken waren eine Woche lang nicht zu bekommen. Allerdings entspannt sich auch hier die Lage. Vorgestern waren bei unserer Ausländersupermarktfiliale Masken für ein paar Stunden erhältlich. Und heute verkündet die Regierung, dass sich jeder unter der Vorlage seines Personalausweises drei blaue OP-Masken in der Apotheke holen kann, das Stück für umgerechnet 15 Eurocent, alle drei Tage.

Absolut präzise Maßnahmen

Auch weitere „absolut präzise Maßnahmen“ sollen verhindern, dass sich das Virus in der Stadt ausbreitet. Sämtliche öffentlichen Veranstaltungen sind abgeblasen und Museen, Theater, Schulen usw. bleiben geschlossen. Kinopremieren sind verschoben. Auch die Standesämter sind zumindest heute dicht, was die Rekordanzahl von Paaren schmerzlich trifft, die unbedingt am 02.02.2020 heiraten wollten, wegen des unvergesslichen Datums. Auch die sowieso schon ausgeweiteten Frühlingsfestferien wurden noch einmal um eine weitere Woche verlängert, jedenfalls so halb. Wer kann, soll bis zum 10. Februar zunächst einmal von zu Hause aus arbeiten. Beamte sind von der Regelung allerdings ausgenommen. Sie wurden schon längst aus dem Urlaub zurückgeholt, um sich an der Seuchenbekämpfung zu beteiligen. Eine Abordnung von drei Maskierten war vor zwei Tagen an unserer Wohnungstür, und verteilte Faltblätter, auf denen unter anderem zu lesen war, dass wir uns ordentlich die Hände waschen und die Wohnung mehrmals täglich durchlüften sollen. Aber das wussten wir natürlich schon.

Die großen Wohnanlagen, in denen die meisten Pekinger wohnen und die in der Regel von einer Mauer umgeben sind, sind inzwischen für Nichtbewohner geschlossen. Wer als Fremder dennoch hineinwill, muss sich von einem Bewohner abholen lassen. Dabei wird am Eingang die Körpertemperatur an der Stirn gemessen, teils mit futuristisch anmutenden Fiebermesspistolen. Die Messung wird inzwischen auch an jedem U-Bahn-Zugang vorgenommen. Die Pistolen scheinen allerdings nicht besonders präzise zu sein. Als ich vor ein paar Tagen den Office Tower betrat, in dem das Büro meiner Frau liegt, maß der Mann an der Rezeption bei mir sagenhafte 33,3 Grad. Eher unwahrscheinlich, dass eine solche an Unterkühlung grenzende Untertemperatur korrekt ist, aber vielleicht bin ich ja inzwischen tatsächlich schon so etwas wie ein Zombie. Trotz solcher und ähnlicher kleiner Unzulänglichkeiten scheinen die Maßnahmen zu greifen. Die Zahl der Infizierten stieg von gestern bis heute in ganz Peking um ganze 23 auf nunmehr 191. Im innerstädtischen Bezirk Dongcheng, in dem wir wohnen und der immerhin knapp eine Million Einwohner hat, sind weiter lediglich drei Personen erkrankt.

Das erklärt auch die recht gelassene Stimmung in der Stadt, zumindest äußerlich. Im Internet sieht es anders aus. Hier tobt die Schlacht zwischen denen, die der Regierung schwere Versäumnisse besonders in der Anfangsphase der Seuche vorwerfen und auch jetzt noch meinen, hinters Licht geführt zu werden, und denen, die hinter der Epidemie eine Verschwörung der USA gegen China wittern. Vor allem die Beiträge der ersten Fraktion werden genauso wie kritische Zeitungsartikel, aber auch Fake News weiterhin von der Zensur gelöscht, wobei man zeitweise allerdings den Eindruck gewinnt, dass die Zensoren mit ihrer Arbeit kaum noch hinterherkommen.

Auch meine Frau und ich verbringen den halben Tag vor dem Rechner. Dabei sind es weniger die Meldungen aus der Seuchenprovinz Hubei und ihrer Hauptstadt Wuhan, die uns deprimieren. Immer klarer wird, dass es sich bei den Coronaviren eigentlich nur um Keime handelt, die zwar hochansteckend sind, aber letztlich nicht extrem gefährlich. Im Moment liegt jedenfalls die Mortalitätsrate nur etwa doppelt so hoch wie bei einer normalen Grippewelle; und es sterben hauptsächlich alte Menschen mit Vorerkrankungen, ebenfalls wie bei einer normalen Grippeepidemie. Das ist natürlich für jeden Betroffenen sehr tragisch, aber längst keine apokalyptische Pandemie.

Umso empörender sind für uns die völlig absurden und überzogenen Reaktionen im Ausland. Eine Fluggesellschaft nach der anderen stellt ihre Flüge von und nach China ein, und ein Land nach dem anderen macht die Grenzen für Menschen aus China dicht. Auch die Meldungen zu rassistischen Übergriffen und Ausgrenzungen in aller Welt gegen Menschen mit asiatischem Aussehen häufen sich; in Berlin, so lese ich soeben, wurde eine 23-jährige Chinesin von zwei Frauen beleidigt, bespuckt und zu Boden geworfen. Gleichzeitig erreichen mich täglich gut gemeinte Tipps von Freunden in Deutschland, die mir empfehlen, bitte schleunigst „die Kurve zu kratzen“ und mich nach Deutschland abzusetzen. Das aber werde ich sicher nicht tun, jedenfalls nicht im Moment. Bereits vor dem Bekanntwerden der ersten Coronavirus-Fälle hatte ich einen Flug für Mitte Februar nach Berlin gebucht, um meinen – mir jetzt plötzlich visionär erscheinenden – Kurzroman Der kleine Herr Tod zu promoten. So lange harre ich hier aus. Ich mache doch nicht die Biege, während meine chinesische Frau und meine hochbetagten Schwiegereltern in Peking bleiben müssen. Und wenn dann in zwei Wochen auch mein Flug gestrichen sein sollte, dann habe ich eben Pech gehabt. 1,4 Milliarden Chinesen können ja das Land im Moment auch kaum noch verlassen.

In der Zwischenzeit vertreiben wir uns die Zeit hier weiter mit Seuchenspaziergängen, dem Durchputzen der Wohnung und Binge-Watching von Seuchenfilmen wie Contagion (Steven Soderbergh; ganz okay), Outbreak (Wolfgang Petersen; geht so) oder World War Z (Marc Foster; Schrott). Sie zerren zwar einerseits an unseren bereits belasteten Nerven, haben aber andererseits einen entscheidenden Vorteil: Sie gehen alle gut aus. Auch ich bin weiter optimistisch, dass wir die Seuche bald überstanden haben werden. Der Schnee, der heute morgen in Peking gefallen ist, ist zumindest schon wieder getaut.

Christian Y. Schmidt war von 1989 bis 1995 Redakteur der Satirezeitschrift Titanic. Seit 2005 lebt er mit seiner Frau in China. 2018 erschien sein erster Roman Der letzte Huelsenbeck. Im März erscheint Der kleine Herr Tod (beide Rowohlt)

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