59. Berlinale: Deutschland 09 - Kunst als 5. Gewalt

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"Deutschland 09" war ein Gemeinschaftswerk der 13 wohl erfolgreichsten deutschen Regisseurinnen und Regisseure für die diesjährige Berlinale. In Bildern und Szenen, Worten und Tönen versuchten sie einzufangen, woher das gegenwärtige Unbehagen der Deutschen kommt. Dokumentarisch oder fiktional, realistisch oder surreal, witzig oder nachdenklich, nüchtern-sachlich oder nostalgisch-elegisch entlarven 13 kurze Filme die Lage der Nation als Schieflage.
Vor allem beim zweiten Beitrag, "Joshua" von Dani Levy, gingen die Lachsalven fast im Sekundentakt durch den Kinosaal. In dieser Dichte hatte ich das zuletzt vor 31 Jahren erlebt, als ich mit einem Kommilitonen an der Kirchlichen Hochschule Bethel drei Walzer von Schostakowitsch aufführte. Dort fand übrigens gestern die letzte Vorlesung statt. Die Hochschule wird geschlossen, wie die meisten Predigerseminare. Denn wer braucht heute noch Theologen? In einer perfekten Welt würden die überflüssig, hieß es einst - und an deren Existenz glauben wir inzwischen offenbar - würden da nicht immer wieder Filme wie diese 13 uns das genaue Gegenteil vor Augen führen.

Unter Einsatz surrealer Elemente gelang das Nicolette Krebitz mit ihrem Beitrag "Die Unvollendete". Gemeint ist die 68er Revolution. Krebitz zeigt den Versuch einer heutigen Heranwachsenden, den Aufbruch von damals durch eine Zeitreise zu Schuberts gleichnamiger Musik zu retten. In einer Berliner Wohnung bringt sie Susan Sontag und Ulrike Meinhof zusammen, um beide zu überreden, die Rollen zu tauschen. Dadurch will sie verhindern, dass die außergewöhnlichen Fähigkeiten dieser Frauen durch deren späteres Abdriften in Terror oder abgehobene Kunst dem gesellschaftlichen Wandel verloren gehen. Vergeblich. Beide sind bereits Gefangene einer unkorrigierbaren Gedankenwelt. Das ist die junge Frau von heute ebenfalls - nur mit dem Unterschied, dass sie es weiß.

Welche gesellschaftliche Bedeutung Kunst heute mehr denn je haben kann, zeigen - wie zur Entschädigung - die dokumentarischen Beiträge von Fatih Akin und Hans Weingartner. Beide befassen sich mit staatlichen Gewaltexzessen gegen unbescholtene Bürger und deren Vertuschung.

Akin drehte ein Interview mit dem türkischstämmigen Bremer Murat Kurnaz, der 2001 in Pakistan verhaftet und über Afghanistan nach Guantanamo verschleppt wurde. Er werde Frank-Walter Steinmeier nie verzeihen können, sagt Kurnaz. Dem heutigen Vizekanzler verdanke er vier Jahre der Gefangenschaft und Folter, weil er ihn 2002 nicht aufnehmen wollte, obwohl die USA dies angeboten hätten, er in Deutschland geboren sei und er nach Aktenlage Steinmeiers unschuldig war.

Hans Weingartner lässt uns den ähnlich gelagerten Fall des 2007 auf Antrag von Monika Harms verhafteten Berliner Hochschullehrers Andrej Holm in einem Dokumentarspiel nacherleben. Durch Justizwillkür wurden Seelen, Familien und Existenzen zerstört, ohne dass dies je gesühnt wurde oder die dafür Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden konnten.

Für die deutsche Öffentlichkeit hatten sich beide Fälle schnell erledigt. Nach Aufklärung der Irrtümer gab es für die Medien kaum noch Aktuelles darüber zu berichten. Mit diesem Gemeinschaftswerk der deutschen Regisseurselite wurde den vergessenen Gewaltopfern ein Denkmal gesetzt - Kunst als "fünfte Gewalt": Wo die ersten drei versagen und auch die vierte nichts ausrichtet, kann sie Unerhörtes und Übersehenes neu zur Sprache bringen und so dazu beitragen, dass brachiale Gewalt durch geistige begrenzt wird. Mit welcher Nachhaltigkeit, hängt entschieden davon ab, wie sie rezipiert wird. Diese bunte und originelle Mixtur hat jedenfalls gute Chancen, in der "Generation YouTube" so viel Aufmerksamkeit zu ernten wie das erklärte Vorbild "Deutschland im Herbst" bei den Intellektuellen der späten Siebziger.

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Geschrieben von

ChristianBerlin

Theologe (Pastor) und Journalist, Berlin. Mitglied im Journalistenverband Berlin-Brandenburg (JVBB) und im Pfarrverein-EKBO. Singt im Straßenchor.

ChristianBerlin

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