"Dass eine Religion sich über die andere erhebt, ist unerträglich"

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Gestern wurde in evangelischen Gemeinden der Israelsonntag begangen. An diesem Tag wird traditionell der Tempelzerstörung in Jerusalem vor fast 2000 Jahren gedacht. Trotz der Neubestimmung des Verhältnisses von Christen und Juden scheinen dabei die alten Ressentiments immer noch durch. Ein Predigtvergleich zeigt, wie die Kirche sich blindlings in den Fallstricken einer zweischneidigen Tradition verheddert und wie sie da wieder herauskommen kann.

http://www.pfarrverein-ekbo.de/src/images/Synagoga.jpgDer 9. Tag des Monats Ab war für das jüdische Volk oft ein Unglückstag. 1492 zum Beispiel. Drei Tage, bevor Kolumbus nach Amerika aufbrach, trat in Spanien das Alhambra-Edikt in Kraft, das alle Juden des Landes verwies. Anfang des Jahres hatten Ferdinand und Isabella endgültig die islamischen Herrscher auf der iberischen Halbinsel besiegt, die den Juden bis dahin Schutz gewährt hatten. Den gewährten ihnen auch die spanischen Könige - aber nur, solange sie Geld für die Reconquista benötigten. Nach Eintritt des Erfolges hatten ihre Majestäten eher ein Problem mit der Rückzahlung und den Zinsen, was als Ursache der Vertreibung in der Edikt-Fassung für Aragon deutlich anklang, in Kastilien aber mit religiösen Scheinargumenten verschleiert wurde.

Jüdische Chroniken datieren auf den 9. Ab außerdem den Beginn des 1. Weltkriegs, das Ende des 1. Kreuzzuges und den Beginn der Deportationen aus dem Warschauer Getto am 22.07.1942. Am Anfang dieser Unglückskette stand 133 n. Chr. die letzte römische Zerstörung Jerusalems und das Schleifen der Reste des Tempels, was mit der Verbannung aller Juden aus der Stadt und der Umbenennung der Provinz Judäa in „Palästina“ endete. In der Mischna wird darüber hinaus der 9. Ab bereits als der Tag der Zerstörung des Salomonischen Tempels (586 v. Chr.) angesehen, obwohl für in 2. Könige 25,8 als deren Beginn der 7. Ab überliefert ist. Und sogar das Goldene Kalb soll Mose nach dieser Überlieferung an einem 9. Ab zerstört haben. Die beiden zuletzt genannten Ereignisse werden schon im Pentateuch und im Deuteronomistischen Geschichtswerk als Strafe Gottes an Israel gedeutet, sodass der 9. Ab bis heute im Judentum der wichtigste Buß- und Fastentag neben dem großen Versöhnungstag ist.

Eine christliche Adaption dieses jüdischen Bußtags ist der Israelsonntag, der fast zeitgleich am 10. Sonntag nach Trinitatis begangen wird, wobei das genaue Datum sich nach dem ebenfalls mondabhängigen Osterkalender richtet. Martin Luther intrepretierte diesen Feiertag als Mahnung, beim rechten Glauben zu bleiben und keinen falschen Kult zu treiben, insbesondere nicht den römisch-katholischen, der magisch oder polytheistisch deutbare Elementen wie die Reliquien- und Heiligenverehrung enthält.

Neben dieser anti-römischen Bedeutung, die durchaus noch das Element christlicher Buße und Selbstkritik enthielt, bekam der Israelsonntag aber auch eine selbstverherrlichende und antijüdische Konnotation. Diese abwertende Sicht auf das Judentum hat einen nicht zu leugnenden Ursprung in der spannungsgeladenen Situation des Neuen Testaments. Die hatte mit dem Paradox zu kämpfen, dass das Christentum bei Nichtjuden erfolgreicher war als bei Juden, obwohl es eigentlich nur für letztere bestimmt war. Deshalb deuteten Christen schon die erste römische Zerstörung des Herodianischen Tempels im Jahr 70 als Strafe Gottes an ihren jüdischen Geschwistern, weil die weiter am Tempelkult festhielten, obwohl der Messias schon da war und sein einmaliges Opfer alle weiteren Opfer sinnlos machte.

http://www.pfarrverein-ekbo.de/src/images/Ecclesia.jpgIm Mittelalter wurde aus diesem Dilemma eine Polemik in Bildersprache. In der Kleinkunst, später auchin den Portalen gothischer Kathedralen, wurden Ecclesia und Synagoga als symbolische Frauengestalten einander gegenübergestellt, ein Motiv, das in Kirchenfensterneugestaltungen bis in die Gegenwart überlebt hat. Synagoga wird dabei häufig in gedemütigter Haltung mit Augenbinde, zerbrochenem Speer und zwei ihrer Hand entgleitenden Dekalog-Tafeln dargestellt, während Ecclesia ihr triumphierend gegenübersteht. Eine Variante zeigt beide unter dem Kreuz, wobei Synagoga sich von Christus abwendet oder ihm mit ihrem Speer in die Seite sticht, während Ecclesia Christi Blut mit einem Kelch auffängt.

Im Magdeburger Dom stehen diese beiden Figuren rechts und links an der Paradiespforte. Am 9. November verändert Domprediger Giselher Quast dieses Ensebleme hin und wieder, indem er Synagoga einen gelben Stern anheftet und Ecclesia mit einem schwarzen Tuch die Augen verbindet. Dann wartet er ab. Wenig später klingelt es regelmäßig, und empörte Dombesucher beschweren sich: „Die Figuren sind geschändet worden!“ Dann kann er erwidern: „Die sind nicht geschändet worden. Denkt doch mal nach, welcher Tag heute ist, was da passiert ist.“

Was er mit diesem Experiment beweisen will, kann er auf einen einfachen Satz bringen: „Dass eine Religion sich über die andere erhebt, ist unerträglich.“ Auch gestern war dieser Satz wieder vor mehreren hundert Gottesdienstteilnehmenden beim Gedenken in der Paradiespforte zu hören. Wir dürfen nicht blind werden fürUnrecht, das um uns herum passiert, wir müssen lernen, es zu erkennen und zu benennen und sollten damit gleich bei der eigenen Sakralkunst anfangen.

Wie wenig diese Selbsterkenntnis einer blinden Ecclesia gelingen will, ist Iris Noah am Israselsonntag vor acht Jahren aufgefallen, als sie einen evangelischen Gottesdienst in Alt-Tegel besuchte. Was dort gesagt oder verschwiegen wurde, hielt sie in einem Beitrag für judentum.net fest.

Im abschließenden Gebet formuliert der Pfarrer: ‚Wir gedenken heute aller Opfer des Judenhasses in Israel und in vielen Ländern‘. Herr T. und sein koscheres Lebensmittelgeschäft, auch Opfer des Judenhasses und mangelnder Solidarität, nur 400 Meter entfernt, werden nicht erwähnt.“ Dabei hatte dieses Geschäft erst wenige Tage vor dem Gottesdienst wegen anitsemitischer Übergriffe schließen müssen.

Obwohl er mit seiner Frau schon 14 Mal in Israel war, leistet sich der emeritierte Pfarrer an diesem Sonntag einen Fauxpas nach dem anderen. Dafür, dass in der Epistel und im Evangelium des Sonntags von der Blindheit Israels und Jerusalems die Rede ist, ist er nicht verantwortlich, wohl aber für seine Auslegung dieser Texte durch das Gorbatschow-Zitat, „wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“ - Begründung: Israel habe die Zeit nicht erkannt, in der Gott es besuchen wollte. Das Jesuswort über die Zweckentfremdung des Tempels als „Räuberhöhle“ deutet er pejorativ , und schließlich kündigt er die Sommeruniversität des Koordinierungsausschuss für christlich-jüdische Zusammenarbeit als „christliche Sommeruniversität“ an.

Nach dem Gottesdienst gerät der Geistliche zwischen die Fronten, als eine Besucherin ihm vorwirft, dass er am Israelsonntag nichts zum aktuellen Unrecht Israels gegen Palästina gesagt hat, und sie deswegen kein Wort mehr mit ihm reden will. Iris Noah muss ihm sogar argumentativ gegen seine Gemeinde beistehen, als Gottesdienstteilnehmer die wutentbrannt gegangene Mitchristin mit dem Argument entschuldigen, es habe nichts mehr mit „Aug um Auge, Zahn um Zahn“ zu tun, wenn das israelische Militär die Häuser von Palästinensern einreiße. Es gehe in der mosaischen Regel um Schadensersatz, nicht um Vergeltung, interveniert da die Jüdin, letzteres sei eine antijüdische Fehlinterpretation.

Seinen nächsten Fehler begeht der Theologe, als Iris Noah ihm die Gretchenfrage nach der Judenmission stellt. „Judenmission ist generell abzulehnen“, ist seine schlaue Antwort. „Juden sollen Juden zu Jesus führen.“ Der Jude, den er dann als Beispiel für innerjüdische Mission nennt, ist allerdings Ludwig Schneider, der Herausgeber der „Nachrichten aus Israel“ (NAI).

Den will Iris Noah 1973 in Wilmersdorf als Mitglied einer evangelischen Gemeinde kennengelernt haben, was aber nicht die jüdische Abstammung des 1941 geborenen Magdeburgers widerlegen kann, dessen Familie dort von einem Pfarrer versteckt worden sein soll. Selbst Uriel Kashi und Oliver Glatz, die ein kritisches Dossier auf Hagalil.com über Ludwig Schneider zusammengestellt haben, bezweifeln nicht, dass er ein deutscher Jude ist, der 1960 zum messianischen Judentum konvertiert ist. Das wahre Problem, das Juden mit Ludwig Schneider haben, ist seine fundamentalistische Argumentation und seine islamfeindliche Hetze. Ludwig Schneider, der nach eigenen Auskünften nur geringe Kenntnisse zum Islam besitzt, wird von seinem Nichtwissen nicht daran gehindert, frei erfundene Anklagen gegenüber dem Islam und den Muslimen zu erheben“ , stellen die jüdischen Autoren fest – und belegen es mit erschreckenden Zitaten.

Es gibt kaum ein Fettnäpfchen, in das der Alt-Tegeler Prediger an jenem Israelsonntag nicht getreten wäre, da halfen ihm auch seine 14 Reisen nicht. Ganz anders sein Magdeburger Kollege. Giselher Quast ist für seinen theologischen Mut bekannt, wird als Wendepfarrer zu Recht mit Christian Führer in Leipzig verglichen und hat auch in den 20 Jahren nach der Einheit nie vor offenen Worten zurückgeschreckt.

Schade nur, dass theologischer Mut innerkirchlich selten belohnt wird. Die Leitungsebene der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM) beschloss vor einem Jahr ein Abberufungsverfahren gegen den überall geschätzten Domprediger wegen „ungedeihlichen Wirkens“, was kaum jemand in der Domstadt begreifen konnte. In einer gerade angelaufenen Online-Umfrage sprachen sich bisher 99,4 Prozent der Abstimmenden für seinen Verbleib aus.

Bilder: Synagoga- (oben) und Ecclesia-Figur (mitte) im Magdeburger Dom

Dieser Beitrag setzt die Auswertung zu typischer Schwierigkeiten im interreligiösen Dialog fort. In der letzten Woche ging es in einem ersten Beitrag um christliche Fehler im Gespräch mit dem Islam.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

ChristianBerlin

Theologe (Pastor) und Journalist, Berlin. Mitglied im Journalistenverband Berlin-Brandenburg (JVBB) und im Pfarrverein-EKBO. Singt im Straßenchor.

ChristianBerlin

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