Der dialektische Materialismus und der dreieinige Gott

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Der dialektische Materialismus, der noch in den 70er Jahren als zeitgemäße Philosophie galt, hat diese Bedeutung offenbar eingebüßt. Zu seiner Tragödie gehört, dass sich der Marxismus mit dieser Verknüpfung von Naturwissenschaft und Metaphysik ein Eigentor geschossen hat. Heute sind wir alle von physikalischen Tatsachen überzeugt, von den Friedrich Engels sinngemäß sagte: „Dann muss es einen Schöpfer geben.“ Und wenn Engels recht hat, muss der auch noch trinitarisch sein.

Gestoßen bin ich auf diese paradoxe Entdeckung durch meine Teilnahme am sog. „Freitags-Koran-Lehrgang“ auf freitag.de. In der Diskussion mit Mustafa Celebi (dem Blogger Muhabbetci) ging es zuletzt um einen wichtigen, vielleicht sogar den zentralen Unterschied zwischen Islam und Christentum: Die Trinitätslehre. Einer von Mustafas Einwänden gegen sie war, dass sie der Logik widerspricht. Uwe Theel und andere hielten dagegen: Sie sei nicht unlogisch, sondern dialektisch.

Zuletzt brachte Michael Jäger diese Dialektik auf folgenden Satz:

Da ist Einer, er liebt es, sich Einmal zu wiederholen, und dies Zweimaleins bildet, drittens, eine Einheit.

Dieser Gedanke bedarf einer Vervollständigung, wenn er Erklärungswert für die Erschaffung und Beschaffenheit der uns umgebenden Realität haben soll.

Dann nämlich ist die Wiederholung des Einen keine spiegelbildliche Duplizierung Gottes, sondern seine polare Ausdifferenzierung. Erst dadurch entsteht die Spannung, die Michaels Zusatz: „drittens, eine Einheit.“ erforderlich und sinnvoll macht.

Die innere Einheit aller polaren Gegensätze war schon im 19. Jh. eine naturwissenschaftlich anerkannte dialektische Grundtatsache. In „Dialektik der Natur“ bringt Friedrich Engels sie auf den Satz,

daß alle polaren Gegensätze überhaupt bedingt sind durch das wechselnde Spiel der beiden entgegengesetzten Pole aufeinander, daß die Trennung und Entgegensetzung dieser Pole nur besteht innerhalb ihrer Zusammengehörigkeit und Vereinigung, und umgekehrt ihre Vereinigung nur in ihrer Trennung, ihre Zusammengehörigkeit nur in ihrer Entgegensetzung.

In seiner unvollendeten „Dialektik der Natur“ unternahm Engels den Versuch, den Zusammenhang zwischen dialektischer Philosophie und Naturwissenschaften aufzuzeigen und so dem „dialektischen Materialismus“ eine empirisch abgesicherte Grundlage zu geben.

Diese Stärke des dialektischen Materialismus ist auch seine Schwäche: Seine Abhängigkeit vom Stand der Naturwissenschaften. Er wird dadurch unter Umständen widerlegbar, ohne etwas dafür zu können. Sobald eine Philosophie ihre grundlegenden Dogmen oder Prämissen auf vorläufige Erkenntnisse anderer Wissenschaften stützt, kann sie jederzeit schon dadurch obsolet werden, dass in anderen Wissenschaft neue Anomalien entdeckt werden, die sie zwingen, ihre Grundlagen zu revidieren.

Ein solcher Fehler unterläuft Engels an einem zentralen Punkt, nämlich bei seinem vermeintlichen Nachweis, dass die bewegte Materie selbst die letzte unreduzierbare Realtität des Universums ist. Der Helmholtzsche Grundsatz der ausschließlich zentral zwischen Körpern wirkenden Kräfte ist für Engels keine vorläufige Erkenntnis, sondern eine unhintergehbare, die ausschließt, dass sie je angeschoben wurden oder auch nur irgendwo zum Stillstand kommt. „Für die dialektische Auffassung können diese Möglichkeiten von vornherein nicht existieren.“ Er glaubt jede Anomalie ausschließen zu können, die “notwendig auf die Erschaffung und Vernichtung von Bewegung hinausläuft und daher auch einen Schöpfer voraussetzt.“ Auf diese Art postuliert Engels hier in einem typischen Zirkelschluss, dass nicht sein kann, was nicht sein darf.

Da der dialektische Materialismus mit dieser Prämisse steht und fällt, stellen zwei spätere Entdeckungen der Naturwissenschaft seine Grundlage ernsthaft in Frage: Der Urknall und das schwarze Loch. Die eine offenbart eine singulär eintretende Erschaffung von Bewegung, die andere deren (partielle) Vernichtung im Stillstand ohne jede Emission. Wenn Engels mit der Behauptung recht hat, dass jede dieser Anomalien notwendig auf einen Schöpfer hinausläuft, dann sind im Umkehrschluss beide Entdeckungen ein Gottesbeweis.

Tatsächlich folgt aus der Urknalltheorie, dass das Universum, die Materie und die Zeit einen bestimmbaren Anfang haben. Was jenseits dieses Anfangs war oder ist, können wir nicht mittels der Gesetze der materiellen Welt zurückverfolgen, weil es ihnen gegenüber singulär und transzendent ist. Wohl aber können wir mit Bestimmtheit sagen, dass dieser transzendente Grund allen Seins (der dafür verantwortlich ist, dass überhaupt etwas ist und nichts) sich im Werden in das Nichts hinein ausbreitet. Damit gibt das transzendente Sein sich aber nicht nur in ein Werden hinein, sondern auch dem Vergehen preis. Aus dem ungewordenen, allem Gewordenen vorausgehenden, Sein wird im Werden des Seienden auch dessen schöpferische (Selbst-)zerstörung.

Soviel kann m.E. ohne Offenbarung und ohne Glaube und auch ohne das Wort Gott dabei benutzen zu müssen über den Grund und die Grundstruktur alles Seienden ausgesagt werden.

Ein denkbarer Gegenbegriff zur schöpferischen (Selbst)zerstörung des Seinsgrundes wäre der Stillstand oder die Stagnation. Letztere kann es in diesem Universum, solange es nicht als Ganzes wieder in sich zusammenfällt, auch partiell geben, was u.a. die entdeckten Schwarzen Löcher beweisen.

Aller Erfahrung nach kommt es zu einer partiellen Stagnation immer dort, wo eine polare Homöostase gestört wird, weil eine Seite die Überhand gewinnt und die Polarität dort endet. In der Biologie z.B. kann die Artenvielfalt in einem Biotop dadurch zerstört werden, dass der Mensch in ihm von woanders her ein Lebewesen aussetzt, das dort keine natürlichen Feinde hat und ideale Nahrungsbedingungen vorfindet. Die Physik kann sich seit Helmholtz ein ähnliches, lange sogar für wahrscheinlich gehaltenes Szenario einer absoluten Stagnation vorstellen: Den sog. Wärmetod oder Kältetod nach dem sog. 2. Thermodynamischen Hauptsatz, dem Energieentwertungssatz, demzufolge die Entropie in geschlossenen Systemen nur zu- aber nicht abnehmen kann, sodass alles irgendwann zum Stillstand kommt.

Gott sei Dank ist die Zwangsläufigkeit dieses physikalisch todsicheren Weltuntergangs durch den Wärme- bzw. Kältetod mit der Entdeckung des Kosmos als offenem System vom Tisch. Speziell für das Schicksal der Erde behalten aber Kälte- und Wärmetod als abgeschwächte Begriffe etwa beim Klimawandel eine Bedeutung, die etwa dem entspricht, was im Märchen das Goldlöckchen bei den drei Bären erkannte: Ist der Brei zu heiß oder zu kalt, ist er nicht essbar. Irgendwo zwischen entgegengesetzten Polen kann ein Quantitätsumschlag in eine Qualität passieren, an der Leben ent- oder bestehen und Vielfalt sich ausbreiten kann.

Theologie ist das alles nicht, nur Metaphysik. Physikalische und metaphysische Betrachtungen des Weltganzen können nur zu einem ist/war/wird oder wenn-dann führen, aber nicht zu einem ethischen „Du Sollst“ (vgl. dazu die Anmerkungen von Achtermann zu Hume). Letzteres bleibt dem zu und durch Menschen redenden Gott vorbehalten. Theologie im engeren wie im weiteren Sinne fragt danach, was er selbst zu alledem zu sagen hat bzw. was ekstatisch davon erfahren wurde oder wird. Dies kann etwas anders sein, als das, was unser Verstand erschließt - muss aber es aber nicht. Und wer im Konfliktfall Recht hat, ist auch noch nicht entschieden. Wie Engels schon in der Einleitung mit einer gewissen Bewunderung bemerkt, kann "geniale Intuition" – zeitweise – der wissenschaftlichen Erforschung hochgradig überlegen sein:

So hoch die Naturwissenschaft der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts über dem griechischen Altertum stand an Kenntnis und selbst an Sichtung des Stoffs, so tief stand sie unter ihm in der ideellen Bewältigung desselben, in der allgemeinen Naturanschauung. Den griechischen Philosophen war die Welt wesentlich etwas aus dem Chaos Hervorgegangnes, etwas Entwickeltes, etwas Gewordenes. Den Naturforschern der Periode, die wir behandeln, war sie etwas Verknöchertes, etwas Unwandelbares, den meisten etwas mit einem Schlage Gemachtes.

Nimmtman den dialektischen Materialismus vor dem Hintergrund neuerer naturwissenschaftlicher Erkenntnisse als das ernst, was er sein will, ergeben sich für die Gottesfrage aus ihm drei (metaphysische, nicht theologische) Konsequenzen: (1) Was vom Sein, Werden und Vergehen der Welt in genialer Inution erfasst oder ekstatisch geschaut wurde und wird, kann wahrer sein als der nur zeitbedingte Erkenntnisstand der Naturwissenschaften in derselben Frage. (2) Die Falsifizierung der von Helmholtz und Engels für sicher gehaltenen Annahme, der Kosmos sei ein geschlossenes System, bedeutet dem dialektischen Materialismus zufolge, dass ein Schöpfer existiert - womit sein Grunddogma in sich zusammenfällt, die Materie selbst sei eine oder die letzte (ungewordene) Realtität. (3) Die Annahme, dass dieser Schöpfer eines dialektischen Universums selbst nur dialektisch begriffen werden kann, ist logischer als ihr Gegenteil.

Vor diesem Hintergrund kann die christliche Theologie nur bedauern, dass der dialektische Materialismus heute nicht mehr die Rolle einer maßgeglichen Philosophie spielt, die ihm zum Beispiel Sartre noch beimaß. Der dezidierte Atheist Ludger Lütkehaus schweigt in seiner „wissenschaftshistorischen und –psychologischen Erinnerung an das 19. Jahrhundert“ (NZZ 16.10.2010) Friedrich Engels sogar völlig tot, als hätten allein Schopenhauer, Nietzsche und Freud von Hermann von Helmholtz zu lernen versucht. Sind Marx und Engels selbst für bekennde Atheisten vom Tableau der relevanten Denkgeschichte verschwunden? Oder ahnt Lütkehaus, dass der dialektische Materialismus dem Atheismus mehr schadet als nützt, weil er eher ein Kronzeuge gegen ihn ist, als dass er ihn begründen könnte?

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

ChristianBerlin

Theologe (Pastor) und Journalist, Berlin. Mitglied im Journalistenverband Berlin-Brandenburg (JVBB) und im Pfarrverein-EKBO. Singt im Straßenchor.

ChristianBerlin

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