Die an den Hecken und Zäunen

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Hartz IV Empfänger dürfen wieder kostenlos zum Kirchentag. Sie sollen vom Rand in die Mitte geholt werden. Was die Frage aufwirft, wer sie dort eigentlich hingestellt hat.

Anmerkungen eines Kirchentagbloggers

„Die Armut in Deutschland nimmt zu. Mehr als 17 Prozent der Bevölkerung gelten als von Armut bedroht, weil sie weniger als 943 Euro im Monat zur Verfügung haben. Armut ist nicht mehr ‚alt und weiblich’, sondern jung: Fast jedes siebte Kind ist von Armut betroffen und beinahe jeder fünfte Jugendliche. Mit dem christlichen Glauben und der biblischen Option für die Armen ist ein solcher Zustand nicht vereinbar.“

Verkündet wurde das auf der gestrigen Pressekonferenz des 2. Ökumenischen Kirchentages, zur Einführung in den Programmteil, in dem es Themen geht wie „Grundeinkommen und Grundsicherung“, „Wie ist das Leben mit Hartz IV“ und „Wir sprechen mit Obdachlosen und nicht über sie“.

Damit das auch stimmt, soll, wie letztes Jahr schon in Bremen, keiner draußen bleiben, der sich aus finanziellen Gründen den Kirchentag nicht leisten kann. Schon im Vorfeld wurden Freikarten über Caritas und Diakonie an von Armut Betroffene verteilt.

„Die biblische Option für die Armen ist der Kompass christlicher und kirchlicher Solidaritätsarbeit. Unser Blick geht auf die Schwächsten, die an den Hecken und Zäunen, die wir hier in den Mittelpunkt stellen wollen, gerade auch in der Krise, damit sie nicht vergessen werden. Es geht darum, wie der Teufelskreis unterbrochen werden kann, dass heutige Kinder armer Eltern morgen Eltern armer Kinder werden.“

Picon ist dabei, dass diese theologisch schlüssig begründete Vorstoß gegen Armut und Ausgrenzung für das Präsidium von Katrin Göring-Eckardt vorgetragen wurde. Als das in ihrem Text mehrfach kritisierte „Hartz IV“ beschlossen wurde, war sie selbst Fraktionschefin der Bündnisgrünen im Bundestag.

Allerdings wäre die EKD-Synodenpräsidentin, Bundestagsvizepräsidentin und Präsidentin des nächsten Kirchentages keine Vollblutpolitikerin, wenn sie nicht auf Nachfrage auch zu diesem Thema die perfekte Ausrede sofort parat hätte. Dass die Hartz IV Gesetze das Elend, das sie beheben sollten, vergrößert hätten, lag an drei Faktoren: An Wolfgang Clement, der als Wirtschafts- und Arbeitsminister Regelungen durchdrücken konnte, die sie selbst schon damals nicht wollte. An dem Vorsatz, alles nach einem Jahr wieder zu überprüfen und dann Fehler zu korrigieren, was so nicht eingehalten wurde. Und daran, dass sie sich selbst bei einigen Regelungen geirrt hatte, und zwar „richtig drastisch“ geirrt. Zu letzterem gehört der Gedanke der Pauschalierung von Leistungen, der die Betroffenen weniger gängeln und bevormunden sollte. Doch schon nach wenigen Monaten wurden viele Kinder vom Schulessen abgemeldet.

„Man darf auch in der Politik neu nachdenken, auch wenn man ein Gesetz eingeführt hat.“ Wenn sie das sagt, kling das überzeugend. Kein Zweifel, sie glaubt es selbst. Betroffene werden ihre Worte dagegen mit eher gemischten Gefühlen aufnehmen, selbst wenn sie umsonst reindürfen, um sich die frohe Botschaft anzuhören. Denn wer kann wissen, ob deren Halbwertszeit diesmal länger dauert als bis zum nächsten Umdenken auf der Regierungsbank? Die liegt übrigens in wahrscheinlich gar nicht mal so weiter Ferne, wenn man den heute veröffentlichten Umfragen glauben darf - mit einem nie da gewesenen Rekordergebnis von bundesweit 17 Prozent für ihre Partei.

Der Verfasser bloggt für freitag.de und pfarrverein.com vom 2. ÖKT aus München. Bisher erschienen außerdem:

Der 2. Ökumenische Kirchentag - darf man da hin?

„Sowas macht mein Opa immer mit mir“

Die Parallelgesellschaft des Mittelstandes

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Geschrieben von

ChristianBerlin

Theologe (Pastor) und Journalist, Berlin. Mitglied im Journalistenverband Berlin-Brandenburg (JVBB) und im Pfarrverein-EKBO. Singt im Straßenchor.

ChristianBerlin

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