Kirchenasyl: Wenn ein Grundrecht verschwindet

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Macherorts verschwinden Menschen, anderweitig Milliarden und manchmal auch Grundrechte. Mit allem dreien kann der alte und inzwischen auch neue Bundespräsident Horst Köhler (hier bei der Eröffnung mit Frau Eva Luise, Kirchentagspräsidentin von Welck und Bremens Bürgermeister Jens Böhrnsen) nicht einverstanden sein. Doch dass er den Zusammenhang zwischen all jenem erkennt und benennt, ist nicht ersichtlich. (Foto: Tristan Vankann)

Das Grundgesetzt, das zu seinem 60jährigem heute in Berlin mit einem Staatsakt gefeiert wird, enthielt als eine von mehreren Besonderheiten den Artikel 16. Ein uneingeschränkter Asylanspruch, und das sogar als individuelles Recht politisch verfolgter Ausländer. Nicht einmal die Genfer Flüchtlingskonvention sieht ein solches einklagbares, individuelles Recht vor.

Inzwischen ist das Grundgesetzt um den Artikel 16a "ergänzt" worden, dessen zweiter Absatz eine Inanspruchnahme des Asylrechts praktisch unmöglich macht - es sei denn, politisch Verfolgte erreichen Deutschland im Flugzeug oder mit dem Schiff. Alle anderen können durch die sogenannte "Drittstaatenregelung" in jene EU-Länder zurückverschoben werden, über die sie eingereist sind, was jeweils per Fingerabdrucknahme bei der Einreise in den ersten Schengenstaat festgehalten wird. Vor dieser "Ergänzung" wurden 1992 in Deutschland noch 84.000 Asylbewerber registriert, jetzt sind es nur noch 19.000.

Ein Grund für den Kirchentag, in der Reihe "60 - 20" zum Doppeljubiläum des Grundgesetzes in Ost und West zu fragen, ob der Rechtsstaat vor dem Mob von Hoyerswerda, Mölln oder Rostock kapituliert hat - und wie man ihm helfen kann.

Unter der Überschrift "Machtloses Recht?" ging es deshalb neben der Frage nach der Kapitulation des Datenschutzes vor Sicherheits- und Unternehmensinteressen u.a. auch um Kirchenasyl als Reaktion die auf sukzessive Aushöhlung eines Grundrechts, die im Grunde schon 1980 begann mit Begriffen wie "Wirtschaftsflüchtlinge" und diese angeblich abschreckende Formen der Unterbringung, des Arbeitsverbots und Einschränkungen der Bewegungsfreiheit.

Damals bildeten sich die ersten dezentralen Initiativen für Kirchenasyl, die abgewiesen Bewerber versteckten, ihr Kirchenbüro aber den Behörden und Gerichten als Zustelladresse bekanntgaben und den Betroffenen rechtlichen Beistand gewährten. Durch diesen zivilen Ungehorsam wurde ein Zeitfenster erzwungen, in die Behörden Zeit bekamen, sich den Fall erneut anzusehen, was - je nach Bundesland - in bis zu 80 Prozent der Fälle zu ihrer Anerkennung führte. Meist wurden sie fehlerhaft angehört. Oder Fakten, die sie vorgebracht, wurden bei der Abwägung einfach außer Acht gelassen. Auch Behördenmenschen sind bekanntlich Menschen.

Ein typisches Behördenversehen in solchen Fällen berichtete Pfarrerin Fanny Dethloff aus Berlin. Sie ist Vorsitzende der 1993 gegründeten ökumenischen Arbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche, einer bundesweiten Anlauf- und Beratungsstelle für Unterstützergruppen. Im geschilderten Fall stellte sich heraus, dass bei einer kurdischen Familie von den Behörden immer nur der Mann befragt worden war. Erst im Kirchenasyl wurde der Frau zugehört. Dort gab sie erstmals an, mehrfach durch türkische Militärs vergewaltigt worden zu sein. Den deutschen Behörden war daraufhin sichtlich unangenehm, dass 8 Jahre lang niemand auf die Idee gekommen war, die Frau zu befragen.

Inzwischen gibt es in Ländern wie Berlin sogar eine Härtefallkommission, die als politische Reaktion auf das Kirchenasyl ins Leben gerufen wurde. Trotzdem schweben dort noch etwa 20-30 ungeklärte Fälle. In einigen Bundesländern ist man nach wie vor rigide und unerfahrene Kommunen drohen den Kirchen zunächst mit Räumung. Trotzdem geht die Arbeitsgemeinschaft heute seltener als früher an die Presse - und hat dafür desto häufiger Erfolg.

Kirchenasyl kann die Verfassungswirklichkeit von vor 1993 oder oder gar vor 1980 nicht zurückholen, aber immerhin für die betroffenen Menschen tun, was möglich ist.

(nachträglich bebildert am 25.05.)

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Bis Samstag erschienen im meinem Blog unregelmäßig Berichte vom Kirchentag, die mit diesem Schlagwort versehen sind. Berichte anderer Freitag-Blogger/Publizisten und weitere Berichte aus meiner Feder können ggf. durch Klick auf dieses Schlagwort (unter dem Titel) aufgerufen werden.

Bisher erschienen:

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Geschrieben von

ChristianBerlin

Theologe (Pastor) und Journalist, Berlin. Mitglied im Journalistenverband Berlin-Brandenburg (JVBB) und im Pfarrverein-EKBO. Singt im Straßenchor.

ChristianBerlin

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