Priorisierung und Rationierung oder „Medizin bei knappen Kassen“

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Bald kein Geld mehr für ihre Behandlung? Die Teilnehmer mussten hören, dass wir bald an finanzielle Grenzen stoßen könnten. Da sei es gut, vorher zu festzulegen, was wichtig ist und was unwichtig. (Foto: Kathrin Erbe)

Niemanden kann die augenblickliche Debatte über Rationierung und Priorisierung mehr stören, als Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt und ihren Staatssekretär Dr. Klaus Theo Schröder. Zumal in einem Wahljahr. Dass sie von Leistungserbringern angezettelt wurde, die eben noch Therapiefreiheit gefordert hatten, passt für Schröder nicht zusammen.

Auch Patientenvertreter wie Prof. Dr. Jeanne Nicklas-Faust vom Bundesvorstand der Lebenshilfe oder Dr. Stefan Etgeton von der Verbraucherzentrale Bundesverband sind skeptisch. Den Leistungserbringern könnte es nämlich eher um Spielräume für den eigenen Profit gehen, als um Einsparungen zugunsten der Beitragszahler.

Doch den Wortführern der Ärzteschaft zufolge geht es um das Patientenwohl und um nichts anderes. Für den Sozialmediziner Prof. Dr. Dr. Heiner Raspe aus Lübeck kommt hier eine Diskussion mit 30 Jahren Verspätung in Deutschland an, die in Skandinavien die medizinische Versorgung erheblich verbessert hat.

Auch der Ratsvorsitzende der Ev. Kirche in Deutschland, Bischof Wolfgang Huber, ist für diese Debatte. Aus seiner Sicht kann sie helfen, bereits real existierende „undurchschaute Rationierungen“ aufzudecken. Außerdem müssen wir dem wachsenden Versorgungsproblem ins Auge sehen, das vor allem durch die Umkehrung der Alterspyramide entsteht.

Am gestrigen Samstag brachte der Kirchentag die unterschiedlichen Positionen miteinander ins Gespräch.

Einig waren sich die vier Experten vor allem in einem Punkt: Dass der einzige Laie in ihrer Runde Recht hat. Das gegenwärtige Budget-System führt durch falsche Anreize („perverse incentives“) zu illegalen „verdeckten“ Rationierungen, wie sie Wolfgang Huber vermutet hatte.

Prof. Nicklas-Faust fürht diese Probleme auf ein sprachlich bedingtes Missverständnis zurück. Ihren Untersuchungen zufolge haben meisten niedergelassenen Ärzte den Unterschied zwischen Richtwerten und Durchschnittswerten nicht begriffen. „Wenn mein ‚Budget’ leer ist, dann kann ich nicht mehr ausgeben“, dachten alle von ihr Befragten, bis auf eine einzige Ärztin. Die wusste, dass sie mehr chronisch kranke Patienten als andere behandelt, und nutzet deswegen die berüchtigte „Budget-Software“ überhaupt nicht, weil sie diesen Rahmen sowieso überschreiten muss. Statt dessen begründet sie konsequent jede einzelne Verordnung als notwendig, mit der Folge, dass noch nie von einer Krankenkasse für die Budgetüberschreitung in Regress genommen wurde. Und damit verhielt sie sich als einzige gesetzeskonform.

Zum selben Missverständnis führt nach Nicklas-Fausts Erkenntnissen auch das sogenannte „DRG“-System (Diagnose Related Groups), das indikationsabhängig Durchschnittswerte für Krankenhaustage vorgibt. Für einen geistig Behinderten in München hatte das die Folge, dass ihn kein neurologisches Krankenhaus für eine stationär begleitete Medikamentenumstellung aufnehmen wollte, weil das in seinem Fall vier Wochen dauern würde, während das DRG nur sechs Tage vorsieht. Auch hier wurde illegalerweise verkannt, dass Durchschnittswerte keine Richtwerte sind.

Prof. Raspe kann dieses Problem nur bestätigen. Seinen Untersuchungen zufolge haben 50 Prozent aller Patienten zur Zeit mit sogenannten IGeL-Leistungen „Kontakt“. Das sind „individuelle Gesundheitsleistungen“ von Ärzten, die Patienten selbst bezahlen müssen. Für diese unvermutet hohe Quote hat Raspe nur eine Erklärung: „Wenn Ärzte merken, dass sie ökonomisch gesteuert werden, werden sie selbst ökonomisch. Dadurch entsteht eine Ökonomisierung, die den Geist des Systems auffrisst.“

Bischof Huber hat sich mehrfach unterstützend an „trickreichen Versuchen“ seiner Gemeinden beteiligt, Ärzte in strukturschwache Gegenden etwa der Priegnitz, der Uckermark oder der Oberlausitz zu locken. Nach seiner Einschätzung besteht das Haupthindernis eines gerechten und effizienten Gesundheitswesen in der für Patienten wie Ärzte letztlich undurchschaubaren Bürokratie von Kassenärztlichen Vereinigungen und Krankenhäusern oder den genauso unkontrollierbaren Pharmakonzernen, die zusammen über eine Viertelbillion Euro oder zehn Prozent des gesamten Bruttoinlandsprodukts verfügten und nicht nur auf „meine und deine Gesundheit“ bedacht seien, sondern auch auf „einen möglichst großen Anteil an diesem Kuchen“.

Dr. Etgeton zufolge hat genau dieser Interessenkonflikt zu falschen Strukturentscheidungen in den zuständigen Gremien wie etwa den Zulassungsausschüssen geführt. Dass es in kinderreichen Berliner Bezirken wie Neukölln oder in Marzahn keine Kinderärzte mehr gebe, sei eine logische Folge der Entscheidung, aus ganz Berlin einen einzigen Zulassungsbezirk zu machen, die am Patientenwohl vorbei gehe. Über Priorisierung und Rationierung nachzudenken komme deshalb für ihn erst in Frage, wenn vernünftige Rationalisierungsreserven ausgeschöpft seien, etwa der Abbau von Überkapazitäten durch Sektorübergreifende Bedarfsplanung von Krankenhäusern oder die Wiedererrichtung von Ärztezentren und Polikliniken, die in den neuen Bundesländern gewaltsam zerschlagen und erst nach 10 Jahren Einheit „neu erfunden“ worden seien.

Staatssekretär Dr. Schröder bestreitet diese Zusammenhänge nicht. Eine Einschränkung medizinischer Leistungen durch Priorisierung und Rationierung könne aber den paradoxen Effekt haben, dass das Gesundheitssystem dadurch nicht billiger, sondern teurer würde. Gerade sei ein ausgewanderter Onkologe von Boston nach Köln zurückgekehrt, weil er nicht damit leben konnte, dass er dort ein viertel seiner Patienten vor die Tür setzen musste. Im Unterschied dazu garantiere das deutsche System einen Rechtsanspruch auf jede medizinisch notwendige und sinnvolle Behandlung. Diese Garantie sei Dreh- und Angelpunkt unseres Systems und seiner Effizienz. „Das amerikanische System ist deshalb soviel teurer, weil es in der Regel im emergency-room endet, und Notfallversorgung, die ist teuer.“ (Die Fallkosten pro Krankenhauspatient waren 2005 in den USA etwa doppelt so hoch wie hier.)

Unvernünftig sei das deutsche System aber vor allem in einem Punkt: Die Beitragsbemessungsgrenzen, für die es kein rationales Argument gebe. Wenn unter diesen Verhältnissen priorisiert werde und dann nicht – wie in Kanada – private Ergänzungssysteme verboten würden, wäre die unweigerliche Folge eine Zwei-Klassen-Medizin: „Für die einen wären nur die Prioritäten 1 bis 8 noch da, der Rest kauft sich die Prioritäten 9-10 mal eben nebenher.“

Logischer Konsens dieser Pro- und Contra-Argumente war demzufolge, dass eine Priorisierung unter deutschen Verhältnissen Ungerechtigkeiten verschlimmern kann, während sie unter skandinavischen Bedingungen als „Königsweg zu einer besonders gerechten Versorgung“ führte (Raspe). Si duo faciunt idem, non est idem. Aber gut, dass wir darüber geredet haben.

(nachträglich bebildert am 25.05.)

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Bis Samstag erschienen im meinem Blog unregelmäßig Berichte vom Kirchentag, die mit diesem Schlagwort versehen sind. Berichte anderer Freitag-Blogger/Publizisten und weitere Berichte aus meiner Feder können ggf. durch Klick auf dieses Schlagwort (unter dem Titel) aufgerufen werden.

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Geschrieben von

ChristianBerlin

Theologe (Pastor) und Journalist, Berlin. Mitglied im Journalistenverband Berlin-Brandenburg (JVBB) und im Pfarrverein-EKBO. Singt im Straßenchor.

ChristianBerlin

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