Späte Gerechtigkeit für Muhammet Eren

Transplantationsfall Dem im November verstorbenen Muhammet ist späte Gerechtigkeit widerfahren: Die Richter am OLG änderten das Gießener Urteil ab. Sein Leben konnten sie nicht mehr retten.

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Am 12. November 2014 verstarb in Istanbul der gerade zweijährige Muhammet Eren Dönmez, nachdem er in Deutschland vergeblich versucht hatte, ein neues Herz zu bekommen. Das Landgericht Gießen hatte am 24. Oktober abgelehnt, ihn in einem einstweiligen Rechtsschutzverfahren auf die Warteliste für ein Spenderherz zu setzen, nachdem das Universitätsklinikum Gießen und Marburg (UKGM) sich zuvor in mehreren Transplantationskonferenzen gegen seine Listung entschieden und die Überprüfungskommission die Richtigkeit dieser Ablehnung aufgrund der Allokationsrichtlinien der Bundesärztekammer bestätigt hatte. Auch andere deutsche Transplantationszentrenten hatten eine Transplantation abgelehnt.

Diese ganzen Entscheidungen müssen nunmehr im Nachgang als fragwürdig angesehen werden. Wie gestern bekannt wurde, stellte das Oberlandesgericht Frankfurt am 5. März in letzter Instanz fest, dass das Gießener Urteil keinen Bestand haben kann. Über den ursprünglichen Hauptantrag des Jungen, ihn auf die Warteliste zu setzen, konnten und mussten die Frankfurter Richter zwar nach seinem Tod nicht mehr entscheiden, wohl aber über die Kostenfolgen.

Die Gießener Richter hatten rechtsfehlerhaft den Streitwert auf der Grundlage der Behandlungskosten mit 300.000 Euro festgesetzt und dem aus ihrer Sicht unterlegenen Jungen die Kosten des Rechtsstreits aufgebürdet. Das OLG berichtigte den Streitwert auf der Grundlage einer Bezifferung des klägerseitigen Interesses am Überleben, die auch seine Vermögens- und Einkommensverhältnisse berücksichtigen muss, und reduzierte ihn auf 50.000 Euro, was die Gerichts- und Anwaltkosten für einen Nicht-Konzern bezahlbar macht.

Darüber hinaus stellte das OLG jedoch auch inhaltlich fest, dass das Landgericht versäumt hatte, sich bei seiner Entscheidung mit wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Fragen auseinanderzusetzen, die einer eingehenden Würdigung bedurft hätten. Es stellte klar, dass die vorinstanzliche Entscheidung keinen Bestand gehabt hätte, wenn es die inzwischen durch den Tod des Klägers erledigte Hauptsache hätte überprüfen müssen, so dass angesichts vieler offener Fragen auch als offen gelten muss, welche Seite dann unterlegen gewesen wäre.

Diese Entscheidung begründete der 16. Zivilsenat im Einzelnen wie folgt:

Soweit ersichtlich sind zur Frage der Aufnahme eines Kleinkindes in die Warteliste eines Herztransplantationszentrums bisher noch keine obergerichtliche[n] Entscheidungen ergangen, so dass eine endgültige Klärung nicht über eine Kostenfrage zu erfolgen hat, vielmehr einem normalen Verfahren vorzubehalten ist. Die hier zu erörternden Rechtsfragen sind sehr schwierig, da zum Teil die tatsächlichen Grundlagen zwischen den Parteien streitig waren. So gibt es angesichts der absolut gesehen äußerst geringen Zahlen für transplantationsbedürftige Kleinkinder keine gesicherten Daten, welche Erfolgsaussichten Transplantationen zukommen.

Unabhängig von dieser tatsächlich nicht sicher geklärten Frage, sind aber auch die rechtlichen Problematiken äußerst schwierig. Die Aufnahme[n] in die Wartelisten nach § 10 Abs. 2 TPG ist Voraussetzung dafür, dass überhaupt eine Herztransplantation möglich wird. Bei Ablehnung einer Aufnahme in die Warteliste kann eine Herztransplantation bei dem Kind nicht vorgenommen werden, so dass dieses aufgrund der Herzschwäche aller Voraussicht nach sterben wird. Durch die fehlende Aufnahme in die Warteliste wird jede denkbare Chance genommen, sich einer Transplantation zu unterziehen. Die Entscheidung hat deshalb weitreichende Wirkungen, so dass auch mittelbar auf das Grundrecht des Verfügungsklägers auf Leben eingewirkt wird. Insoweit stellt sich aber hinsichtlich der gesetzlichen Regelungen des § 10 TPG tatsächlich die Frage, wie § 10 Abs. 2 Nr. 2 TPG verfassungskonform auszulegen ist, da aus Art. 2 Abs. 1 S. 1 GG folgt, dass es untersagt ist, zwischen mehr und weniger „lebenswerten“ Leben zu differenzieren bzw. die Leben der Grundrechtsträger für alotative (sic!) Zwecke nach ihrer medizinischen oder sonstigen Qualität oder ihrer voraussichtlichen Dauer zu unterscheiden. Zwar muss auf der anderen Seite auch gewährleistet sein, dass überhaupt ein Transplantationserfolg zu erwarten ist, jedoch ist hier ein großes Spannungsfeld gegeben. Grundsätzlich muss nämlich davon ausgegangen werden, dass allen Patienten, bei denen eine Transplantation überhaupt medizinisch indiziert ist, ein Teilhabeanspruch aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG an den vorhandenen Transplantationskapazitäten zukommt. Aus diesem Anspruch folgt grundsätzlich ein Recht auf Zugang zur Warteliste, zumal eine Eintragung in die Warteliste nicht zwingend bewirkt, dass eine Transplantation vorzunehmen ist, sondern nur die Chance auf eine Transplantation gibt. Eine solche Chance von vornherein zu verweigern, erscheint deshalb sehr problematisch, so dass an das in der Norm genannte Kriterium „der Erfolgsaussicht“ möglicherweise nicht so hohe Anforderungen gestellt werden können. Auf der anderen Seite ist aber die Führung der Warteliste auch dadurch geprägt, dass wegen der Knappheit möglicher Spenderherzen eine Auswahlentscheidung getroffen werden muss und für diese Auswahlentscheidung möglichst höhere Erfolgsaussichten gefordert werden müssen. Ob diese höheren Erfolgsaussichten aber durch eine Richtlinie der Bundesärztekammer bestimmt werden können ist zumindest fraglich und bedarf einer intensiven und genauen Überprüfung. Diese für eine endgültige Entscheidung zu beantwortenden Fragestellungen sind auch äußerst kompliziert und tiefgehend, so dass eine diesbezügliche Entscheidung in einem Verfahren, in dem es nur noch um Nebenpunkte und um die Kostenverteilung geht, keinesfalls notwendig und geboten erscheint. Das Ermessen ist vielmehr sachgerecht in der Weise auszuüben, dass das Risiko zwischen den Parteien gleich zu verteilen ist. Dies bedeutet, dass die Kosten des Rechtsstreits gegeneinander aufzuheben sind.

Den Streitwert bis zur Erledigung hat der Senat gemäß §§ 53 GKG, 48 GKG, 3 ZPO auf 50.000,-- € festgesetzt und nach Erledigung entsprechend dem Kosteninteresse auf 6.700,-- €.

Da es sich hier um eine Entscheidung im Rahmen eines einstweiligen Verfügungsverfahrens handelt, findet aufgrund der Wertung des § 542 Abs. 2 ZPO eine Rechtsbeschwerde gegen diesen Beschluss nicht statt.

Die beteiligten Richter am Landgericht Gießen müssen sich nach dieser Entscheidung im Nachgang nicht nur fragen, warum sie hier wesentliche Rechtsfragen übersehen haben, die eine Korrektur ihres Urteils erforderlich machten. Sie werden auch mit der Frage leben müssen, ob sie durch diesen Mangel an richterlicher Sorgfalt für den Verlust eines Menschenlebens verantwortlich sind. Mit ähnlichen Fragen werden auch die Gießener Ärzte und für die Bundesärztekammer tätige Mediziner, Philosophen und Juristen leben müssen, wenn sie in diesen Fall involviert waren und sie sich dabei anders positioniert oder entschieden haben als jetzt das OLG.

Noch wichtiger als die Frage nach deren persönlicher Verantwortung vor Gott oder dem Gewissen ist die nach der Verantwortung des Gesetzgebers. Wird es die Politik angesichts dieser Entscheidung bei vom Gericht aufgeworfenen Fragen belassen, bis im nächsten Wettlauf gegen die Zeit grundlegende Fragen geklärt werden müssen, die sich in der gebotenen Eile hier nicht rechtssicher klären ließen? Oder erkennt die Politik jetzt ihre ureigenste Aufgabe, in Fragen der Organverteilung gesetzgeberisch verfassungskonforme Rechtssicherheit zu schaffen?

Zur Fallgeschichte sind im vergangenen Jahr auf dieser Seite folgende Beiträge des Autors erschienen oder aus der SZ übernommen worden (dort gemeinsam mit Dr. Christina Bernd veröffentlicht):

https://www.freitag.de/autoren/christianberlin/kein-spenderorgan-fuer-behindertes-kind

https://www.freitag.de/autoren/christianberlin/vater-mutter-verzweiflung

https://www.freitag.de/autoren/christianberlin/transparenter-und-gerechter-transplantieren

https://www.freitag.de/autoren/christianberlin/antrag-auf-einstweilige-verfuegung-eingereicht

https://www.freitag.de/autoren/christianberlin/kein-herz-fuer-behinderte

https://www.freitag.de/autoren/christianberlin/muhammet-fliegt-heim

Der Autor bekennt sich dazu, aus ethischen Gründen in dieser Sache nicht neutral berichtet, sondern eine klare Meinung auch als Person vertreten zu haben, ohne jedoch Fakten zu verfälschen.

Auf Freitag.de ist nach dem erstinstanzlichen Urteil zum Fall des Jungen und seinen rechtlichen Aspekten ein Beitrag von Mariam Schraube erschienen, der die späteren, hier wiedergegebenen Ausführungen des OLG zum Teil vorwegnahm.

https://www.freitag.de/autoren/marian-schraube/der-fall

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

ChristianBerlin

Theologe (Pastor) und Journalist, Berlin. Mitglied im Journalistenverband Berlin-Brandenburg (JVBB) und im Pfarrverein-EKBO. Singt im Straßenchor.

ChristianBerlin

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