Die starke Gesellschaft schließt Schwache ein

Gauck Zu einem Hauptvortrag des Kirchentags kam der Bundespräsident, als Lockvogel für ein Rand-Thema - was Journalisten enttäuschte und Besucher begeisterte.

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"Wenig Sprengstoff", sagt der ARD-Korrespondent in die Kamera, während im Hintergrund der Bundespräsident weiterredet. Unter der Überschrift "Eine starke Gesellschaft" gehe es lediglich um die Inklusion behinderter Menschen - also um Dinge, die jeder unterschreiben könne. Auf Kirchentagen, zumal in einem Wahljahr, habe man vom Präsidenten anderes erwartet.

Auf Ruckreden oder Sätze, die die Welt verändern, warteten die vielen Kamerateams und zahlreiche andere Medienvertreter in der Hamburger Messehalle B 5 an diesem 2. Mai tatsächlich vergebens. Der eigentliche Star der Veranstaltung war auch nicht Joachim Gauck, sondern sein Ex-Kollege Pfarrer Rainer Schmidt aus Bonn.

"Handwerker wird der mal nicht", das wusste, wer ihn kannte, schon seit seiner Kindheit. Das Kontergankind hatte keine Arme, dafür aber grenzenlose Phantasie, unerschöpflichen Humor und einen unbegreiflich zähen Willen. Gaucks rhetorisch begabter und geschulter Amtsbruder sprühte vor Charme und Überzeugungskraft, so dass der Präsident Fragen des Publikums fasziniert und voller Respekt an ihn weitergab in dem Wissen, dass auf diesem Themenfeld niemand sonst so kompetent und eindrücklich antworten könne.

Dabei hatte Rainer Schmidt in seiner Kindheit zunächst das Gegenteil von Inklusion erlebt und war an den Rand gedrängt worden. Nach dem nordrhein-westfälichen Schulgesetz musste damals jedes Kind mit einer Behinderung auf eine Sonderschule gehen. Für ihn, der geistig voll präsent, ja hoch intelligent war, bedeutete das die "Einschulung ins Gruselkabinett". Erst nach einer Weile begriff er, dass auch seine überwiegend geistig behinderten Mitschülerinnen und Mitschüler normale Menschen waren, mit denen man prima auskommt. Seine schulische Exklusion führte aber dazu, dass er sich selbst auch an den Nachmittagen ausgrenzte. Andere Kinder redeten beim Spielen immer nur von der Schule, wenn er - sowieso erst am späten Nachmittag - von seiner Förderschule in Köln ins Bergische Land nach Hause zurückkam, zumindest hatte er diesen Eindruck. Während er vorher zusammen mit seinem nicht-behinderten Bruder am Ort überall dazugehört hatte, zog er sich von da an mehr und mehr zurück.

Der Sport war sein Weg, um diese Vereinsamung aufzubrechen. In den 70ern standen in Jugendfreizeiteinrichtungen überall Tischtennisplatten. Rainer wollte mitspielen und ein Freund ersann eine Vorrichtung, den Schläger unter dem Arm zu fixieren. Das funktionierte und brachte viel Spaß. Danach ging er in einen Verein, in dem ihm sein Trainer zeigte, wie man im Tischtennis gewinnt, und in dem er ihm zeigte, wie man das auch mit einer Behinderung schafft.

Von da an besiegte Rainer einen nach dem anderen und wurde schließlich Paralympic-Star. Alle vier Jahre holte er bei den internationalen Wettkämpfen jedesmal entweder Gold oder Silber für Deutschland. "Für Bronze hat es nie gereicht", scherzt der Theologe: Als Dritter hätte er nämlich seine Platzierung Gehörlosen gar nicht mehr mit den Fingern zeigen können.

Dass er als Förderschüler entgegen dem Gesetz Abitur machen und studieren konnte, verdankt er ebenfalls vorhandener Begabung und dreister Aufmüpfigkeit. Er ging als Neuntklässler einer Sonderschule zum Direktor eines Gymnasiums und sagte: "Ich will bei euch Abitur machen." Der antwortete nach kurzem Nachdenken: "O.K.: Was müssen wir an unserer Schule verändern, damit Sie bei uns Abitur machen können?"

Für Rainer Schmidt ist die Frage "Was müssen wir anders machen, damit Sie es schaffen?" der Satz, mit dem Inklusion beginnt, damals wie heute. Das Schulgesetz wurde inzwischen geändert, Inklusionskitas und -schulen werden jetzt auch für geistig Behinderte überall angestrebt, man lebt und arbeitet wie selbstverständlich in Behörden und Betrieben zusammen, mag auch, wie Gauck zwischendurch beklagte, die Privatwirtschaft die gesetzlich vorgeschriebene Behindertenquote von 20 Prozent - im Gegensatz zum öffentlichen Dienst - nicht übererfüllen, sondern bei 4 Prozent weit hinter ihr zurückbleiben und lieber die Abgabe entrichten.

Die Segnungen moderner Technik und ein verändertes, quasi entnazifiziertes Bewusstsein machen heute für viele vieles möglich, was bei Rainer Schmidt noch die große Ausnahme war. Allerdings ermöglichen gesetzgeberische und technische Fortschritte auch das Gegenteil. Die Beseitigung des Behindertenproblems vorab durch pränatale Diagnostik, um deren Bewertung der Bundespräsident aus dem Publikum gebeten wurde, ist so ein dunkler Punkt.

Rainer Schmidt, an den der Präsident diesen Ball weitergab, stellte diesen Fortschritt - als potenziell Betroffener - in eine Ecke mit der NS-Euthanasie: "Wenn ich heute Embryo wäre, käme meine Abreibung ohne weiteres durch. In Indien passiert das mit Mädchen, seit man das Geschlecht bestimmen kann. Dort bedeutet, ein Mädchen zu sein oder zu kriegen, eine soziale Katastrophe, bei uns gilt ein beindertes Kind als dieselbe Katastrophe. Was wir beseitigen müssen, ist in beiden Fällen die Katastrophe, nicht das Kind."

Gegen solch schlüssiges und durch eigenes Betroffensein untermauertes Argumentieren wäre alles, was der Bundespräsident zu denselben Fragen hätte sagen können, von vornherein verblasst. Rainer Schmidt versprühte seinen Charme so rücksichtslos, dass er damit selbst andere Vorkämpferinnen und Vorkämpfer für eine behindertengerechte Welt auf dem Podium in den Schatten stellte.

Samuel Koch zum Beispiel. Der Schauspielstudierende wurde bei einer Wetten-Dass-Show vor einem Millionenpublikum zum Querschnittsgelähmten. Neben Rainer Schmidt wirkte dieser Kämpfer emotional traurig und enttäuscht - trotz seiner Versicherung, sein Glaube habe ihm geholfen, nicht bitter zu werden, und trotz aller Erfolge, die er im Kampf gegen dieses Schicksal vorweisen konnte. Ambitioniert und engagiert wirkte auch Monika Labruier aus Köln, die mit einer privaten Firma anderen Unternehmen erfolgreich die Ängste nimmt, optimal qualifizierte, aber behinderte Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter einzustellen. Doch man merkte, dass auch sie zu kämpfen hat und ihr keineswegs alle Türen geöffnet werden, sobald es konkret wird und man nicht nur unterschreiben muss, dass man dafür ist.

Vielleicht war es deshalb ganz gut, die Popularität und Medienaufmerksamkeit des Bundespräsidenten zu nutzen, um dieses Thema vom Rand in den Mittelpunkt des Kirchentages zu holen - ein gelungenes Piratenstück des Kirchentages.

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Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

ChristianBerlin

Theologe (Pastor) und Journalist, Berlin. Mitglied im Journalistenverband Berlin-Brandenburg (JVBB) und im Pfarrverein-EKBO. Singt im Straßenchor.

ChristianBerlin

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