Von gemalten und echten Soldaten. Perspektiven einer Kanzlerin

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http://earthgoo.de/pfarrverein/images/kanzlerin2.jpgIhre Perspektive war: Mit 60 in Rente, dann Reise nach Amerika. Als Rentnerin konnte man seinen DDR-Pass bei der Bundesrepublik hinterlegen und bekam einen West-Pass, mit dem man in die USA durfte. „Darauf habe ich hingelebt“, so die Kanzlerin. Auf dem 32. Deutschen Evangelischen Kirchentag in Bremen sprach sie vor ca. 10.000 Teilnehmern mit dem Deutschland-Kenner Timothy Garton Ash aus Oxford, moderiert von Rüdiger Sachau, dem Direktor der Ev. Akademie zu Berlin.

„Menschwenwürde und Demokratie“ lautete das Thema. Rüdiger Sachau stellte den beiden Diskutanten die Doppelfrage, was wir tun können, damit die demokratische Gesellschaft weiter wächst und wie wir den vor 35 bzw. 20 Jahren vollendeten Prozess der Beseitigung der letzten Diktaturen in West- und Osteuropa in anderen Teilen der Welt weiterbringen, ohne dass wir arrogant oder paternalistisch sind.

Timothy Garton Ash kennt dafür nur eine halbwegs sichere Methode: Da wir die Zukunft nicht sehen könnten, müssten wir es machen wie der Ruderer: Der schaut zurück und orientiert sich an Fixpunkten, von denen er sich wegbewegt, erläuterte der Historiker.

Auch die Kanzlerin entwickelte ihre Antwort aus einem Blick in die jüngere Geschichte. Das Schlüsselproblem, das eine Gesellschaft stagnieren lässt, ist aus ihrer Sicht ihr Konformitätsdruck, der für sie in der DDR offensichtlich war. Den gebe es auch heute noch, nur subtiler. „Es ist ja nicht so, dass wir keine Probleme mehr hätten, nur weil wir keine Diktatur haben.“

„Wenn in der Nachbarschaft einer gedemütigt wird“, ist das für sie eine demokratische Herausforderung. Oder wenn wir uns politisch engagierten, und in unserer Politgruppe denken 80 Prozent anders als wir. Sagen wir das dann? Wenn Freiheit nicht in Anspruch genommen würde, entstünde auch unter freiheitlichen Bedingungen eine hohe Konformität und keine lebendige Gesellschaft.

Bevor sie 35 wurde und die Mauer fiel, war die Quelle des Konformitätsdrucks klar identifizierbar. Die Statik des DDR-Systems fußte „auf der Prämisse der Diktatur des Proletariats in Form der Arbeiterklasse, die weiß, was richtig ist“. Wer sich dem nicht in den Weg stellte, bekam keine Schwierigkeiten. Der konnte alles haben, was das Leben schön macht – gut gelaunte Eltern, schöne Weihnachtsfeste, Freundschaften zum Beispiel. Doch wer das Herrschaftswissen, um das, was richtig ist, in Frage stellte, konnte erleben, wie „an einer bestimmten Stelle politisch jede Gnade weg war“. „Wenn Freiheit zu stark in Anspruch genommen wurde, war alles beendet.“ Die Akten und Gefängnisse der Stasi seien nur die Spitze eines Eisberges gewesen, unter dem Abgründe von Denkverboten begraben liegen.

„Woher kommt das Denken?“ hat sich die Kanzlerin als Jugendliche immer gefragt. Vor allem, wenn sie bemerkte, dass andere ihre Fragen gar nicht hatten. Sie selbst führt das auf ihre Eltern zurück. Im Pfarrhaus habe sie gelernt, dass Fragen nicht einfach eingestampft werden, sondern man gemeinsam nach Antworten sucht, bis man sie findet.Letzteres sei auch heute noch der Motor für Veränderungen, wobei ein eigener Schwerpunkt auf dem Wort „gemeinsam“ liegt.

„Früher hat man nichts sagen dürften, aber wenn man etwas sagte, hatte es eine ungeheure Wirkung. Heute darf man alles sagen, aber man hat das Gefühl, es geht unter“, hatte Rüdiger Sachau demokratiekritisch eingewandt. Das Gegenmittel ist für die Kanzlerin die Bündelung von Interessen: „80 Millionen verschiedene Meinungen verhallen, wenn man sich nicht zusammenschließt. Nur wenn wir gebündelt auftreten, können wir in der Welt etwas bewegen.“ Das gelte im Großen wie im Kleinen. 500 Millionen Europäer hätten in der Welt mehr Gewicht als 80 Millionen Deutsche.

Kritische Geister hätten aber gerade damit oft Schwierigkeiten, genauso wie bestimmte mittel- und osteuropäische Länder, die ihre gerade errungene Freiheit nur ungern einzuschränken. Wo jeder kompromisslos sei und immer das Trennende mehr betone als das Verbindende, drohe deshalb Stagnation ebenso wie durch Konformitätszwang. Das Erfolgsgeheimnis sei deshalb die ausgewogene Verknüpfung widerstreitender Tugenden: „Das richtige Maß an Kompromissfähigkeit und Vorwärtsdrängen ist eine entscheidende Sache, wenn es um Veränderung geht.“

Dieses Maß müsse gefunden werden. Da heute die entscheidenden Veränderungen außerhalb Europas passieren, erzwinge die Globalisierung, dass es zu zu einer "EU-weit harmonisierten Außenpolitik" kommt. Ebenso notwendig sei die verabredete Koppelung der europäischen Entwicklungshilfe an Kriterien der „good governance“. Immerhin kämen, wie Timothy Garton Ash betonte, nach wie vor 60 Prozent der weltweiten Entwicklungshilfe von EU-Ländern. Damit ließe sich etwas bewegen.

Eine Meinung, die wenige Stunden später am selben Ort Merkels Amtsvorgänger Helmut Schmidt fast gleichlautend vertrat, wobei der die Good-Governance-Kriterien konkretisierte: Gewährung von Frauenrechten – als einzig sinnvolle Antwort auf die anders nicht zu stoppende Bevölkerungsexplosion - und Reduktion der Rüstungshaushalte, die nach seiner Berechnung in Empfängerländern sieben mal so hoch seinen wie die ihnen gewährte Entwicklungshilfe.

Wenn man die weitergehenden, klar umrissenen Forderungen des legendären Altbundeskanzlers neben ihre Antworten hält, werden Schwächen des Erfolgsgeheimnisses der Kanzlerin deutlich. So klar ihr Urteil über die DDR im Rückblick sein mag, so wenig sieht sie, dass das, worauf sie zusteuert, an manchen Punkten noch schlimmer ist.

Deutlich wird das im Kontrast ihrer DDR-Kritik mit der von ihr selbst geschaffenen Realität: Dass die Straßenverkehrsordnung auch funktioniert hat, sei zwar richtig, aber nicht das erste, was es über die DDR zu sagen gebe. Dass Ärzte in Polikliniken zusammenarbeiteten, sei richtig gewesen, dass jedes Kind einen Kita-Platz bekam, wovon wir noch weit entfernt seien, stimme ebenfalls. „Aber: ich warne davor, so zu tun, als wäre ein Kindergartenplatz damals dasselbe wie ein Kindergartenplatz heute. Am 1. März", so die Kanzlerin, "dem Tag der NVA, hieß es: 'Wir zeichnen einen Soldaten.' Dann wurde gelernt: 'Was tut der Soldat? Vor was beschützt er uns? Wer ist der Klassenfeind?'“

Heute muss die Kanzlerin keine Soldaten mehr zeichnen. Statt dessen schickt sie Soldaten in alle Welt. „Verantwortung übernehmen“ heißt das in ihrer neu gelernten Sprache. Und mit 60 in Rente gehen, das war einmal. Davon könnte sie heute nur noch träumen.

Zeichnung: Karin Hofmann

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Geschrieben von

ChristianBerlin

Theologe (Pastor) und Journalist, Berlin. Mitglied im Journalistenverband Berlin-Brandenburg (JVBB) und im Pfarrverein-EKBO. Singt im Straßenchor.

ChristianBerlin

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