Wer oder was tötete Aylan Kurdi?

Flüchtlings-Krimi Zum Tod des 3jährigen syrischen Flüchtlings Aylan Kurdi existieren unterschiedliche Schuldzuweisungen. Der Autor stellt sie in einer kriminalistischen Collage gegenüber.

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Europas Grenzen

„Männer und Frauen, Familien und Kinder – sie sind auf der Flucht vor Krieg, Vertreibung, Folter und Hunger. Sie eint die Hoffnung auf ein menschenwürdiges Leben in Europa. Tausende fanden den Tod auf der Flucht über das Mittelmeer. Sie sterben, weil die bisherige Politik versagt hat. Die Wahrheit ist: Europas Grenzen töten. Tag für Tag.“

Mit dieser Präambel der am 4. Juni 2015 in Stuttgart beschlossenen Kirchentagsresolution „Sichere Fluchtwege nach Europa“ macht Campact e.V. als beantragende Nichtregierungsorganisation „Europas Grenzen“ für den Tod von Menschen wie Aylan Kurdi verantwortlich. Europas Grenzen töten genau besehen aber nur wie eine Waffe, und die Verantwortung dafür trägt Europas Grenzregime, die „bisherige Politik“.

Kriminelle Schleuserbanden

Die Politik ihrerseits macht die üblichen Verdächtigen verantwortlich: „kriminelle Schleuserbanden“, die für horrende Summen arme Menschen verantwortungslos in seeuntüchtigen von keiner nautischen Crew gelenkten Booten auf dem Meer aussetzen. Ein Gericht in Bodrum hat deswegen vier Syrer im Alter zwischen 30 und 41 Jahren angeklagt.

Doch selbst wenn die 4 Angeklagten am Tod von Aylan schuldig sind, können sie die Tat aber nicht ohne fremde Hilfe begangen haben. Das Geschäftsmodell von verantwortungslosen Schleppern und Schleusern kann nämlich nicht funktionieren, wenn sie in Konkurrenz zu sicheren und legalen Fluchtwege stünden.

Aylans Familie wollte ursprünglich nach Kanada, bekam aber kein Visum. Ihre seit 20 Jahren dort lebende Tante wurde von den Behörden abgewiesen, sagte sie dem „Ottawa Citizen“.

„Ich versuchte, für sie zu bürgen. Meine Freunde und meine Nachbarn halfen mir mit Bankeinlagen, aber wir konnten sie nicht herausholen. Das ist der Grund, warum sie in das Boot stiegen."

Die verfehlte Politik des Westens

„Die unmittelbaren Fluchtursachen liegen natürlich in den Fluchtländern selbst, dort aber häufig verursacht durch eine über Jahrzehnte verfehlte Politik des Westens. Erstaunlicherweise halten sich die dafür derzeitig verantwortlichen Bundesminister dezent zurück oder schwadronieren in deutschen Erstaufnahmelagern vor Kameras über die Not der Flüchtlinge und die Hilfsbereitschaft unserer Zivilgesellschaft.“

Reinhard Erös, der zu Sowjetzeiten die deutsche Kinderhilfe Afghanistan ins Leben rief und mit Bin Laden schon Tee getrunken hat, als der noch als Freund Amerikas galt, beschreibt deren Versagen schonungslos in einer treffenden, wenn auch kaum beachteten Analyse, die 5 Tage vor Aylans Tod in der „Mittelbayerischen Zeitung“ veröffentlicht wurde. Anders als indirekt kritisierte Populisten kommt der zu dem Ergebnis:

„Deutschland lockt Flüchtlinge nicht mit 'unangemessen hohem Taschengeld' zu uns. Eine kurzsichtige, häufig kontraproduktive Außen- und Entwicklungspolitik ist es, die Millionen zur Flucht nötigt“

Aylans Familie ist aus dem zerstörten Kobane geflüchtet, weil der Westen die Menschen dort beim Abwehrkampf gegen den IS mit Waffen und Luftunterstützung unterstütz hat, jedoch nicht beim Wiederaufbau ihrer Stadt.

Die Ignoranz der Mächtigen

„Die Bundesregierung muss über ihre Entwicklungsdienste in den gehaltenen und befreiten Gebieten Nordsyriens Wiederaufbauhilfe leisten, damit die Zurückgekehrten dort bleiben und ein menschenwürdiges Leben führen können. Diese Hilfe soll an die kontrollierbare Selbstverpflichtung gekoppelt werden, die Menschenrechte zu achten“

So steht es in einer weiteren Kirchentagsresolution, die von der Gesellschaft für bedrohte Völker zusammen mit der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte eingebracht und am 6. Juni 2015 bei der Veranstaltung „Jeder hat das Recht (s)ein Land zu verlassen“ mehrheitlich angenommen wurde.

Es nicht „der Westen“, der den Wiederaufbau von Kobane verhindert. Es sind seine Regierenden. Deren Volk will etwas anderes. Das haben die Abstimmungen über die beiden zivilgesellschaftlich initiierten Resolutionen klar gezeigt.

Trotzdem haben Politiker bis zu Aylans Tod am 2. September nichts davon umgesetzt. Das hängt auch damit zusammen, dass Kirchentagspräsident Andreas Barner ihnen diese Resolutionen erst an diesem Tag zugestellt hat.

Die nach nunmehr 3 Monaten Zustellung bedeutet aber noch nicht, dass die verantwortlichen Politiker die Resolutionen auch zu Gesicht bekommen. Obwohl der Kirchentag die zu Kobane unter anderem direkt an die Email-Adresse gerd.mueller@bmz.bund.de gesendet hat, musste Gerd Müller zwei Tage später bei der Hamburger #Zukunftstour 2015/16 gestehen, dass ihm sie bislang unbekannt war. Immerhin wies der - gerne auch mal querdenkende - CSU-Minister seine persönliche Referentin sofort an:

„Finden Sie die Kirchentagsresolution! Und legen Sie sie mir vor. Die wird beantwortet!“

Aylans Mutter, seinen Bruder und den Jungen selbst wird das nicht wieder lebendig machen. Ebenso wenig wie die Tatsache, dass diese Resolution lange vor deren offizieller Zustellung im Kanzleramt und im Auswärtigen Amt schon seit Juni bekannt war. Diese beiden Behörden hatten

Im Unterschied zum BMZ hatte das Kanzleramt und das Auswärtige Amt sogar eine reelle Chance, im Vorwege etwas gegen den Tod des Jungen zu tun: Sie kannten die Resolution schon im Juni. Eine zeitnahe deutsche Ankündigung, in deren Sinn Menschen in Kobane durch Wiederaufbauhilfe ein menschenwürdiges Leben ermöglichen zu wollen und dies auch noch unter kontrollierbarer Gewährleistung der Menschenrechte dort, hätte mit hoher Wahrscheinlichkeit genügt, um Aylans Familie dem Zugriff der Schlepper zu entziehen und sie freiwillig und ohne Sarg in die Stadt zurückkehren lassen, in die sie 2012 über Aleppo aus Damaskus geflüchtet waren, bevor der IS auch Kobane angriff und Abdullah Kurdi mit seiner Famlie in die Türkei weiterzog. Abdullah will er in Kobane bleiben, obwohl Kanada jetzt sogar die Staatsbürgerschaft anbot.

Die gesamte Menschenheit („tüm insanlik“)

Von den Gründen, die die Bundesregierung bislang davon abhielten, für Kobane Wiederaufbauhilfe, zu unterstützen, führt auch eine Spur der politischen Rücksichtnahme in die Türkei, in den Präsidentenpalast von Recep Tayyip Erdogan. In einer Ansprache vor dem Treffen der Notenbankchefs der G 20 Staaten in Ankara stellte der jedoch unmittelbar nach Aylans Tod seine Unschuld unter Beweis, indem wahren Schuldigen beim Namen nannte:

„Muss man nicht der gesamten Menschheit die Verantwortung dafür geben, dass der 3jährige Jungen an unsere Küsten gespült wurde?“

Das klingt wie Ironie, trifft aber den Kern: Die Menschheit ist verantwortlich, wenn sie Funktionsträger in ihren Ämtern belässt, die sich vornweg als ignorant und überfordert erweisen und immer hinterher die Konsequenzen ihres Handelns nicht gewollt haben.

Was hier passiert ist, schreit nach Veränderung, auch in deutschen Behörden. Vor allem die Regierungsbeamten, die zur Absicherung der Aushöhlung des Asylrechts oder einer konstruktiven Menschenrechtspolitik auch das Petitionsrecht aushöhlen, indem sie die Abschottung der politisch Verantwortlichen von Petitionen aus der Zivilgesellschaft und damit von einem grundgesetzlich vorgesehenen Herrschafts-Instrument des demokratischen Souveräns organisieren, sollten neu instruiert oder sogar ersetzt werden, wenn sie den gewählten Verantwortlichen deren Verantwortung grundgesetzwidrig abnehmen, indem sie sie dumm sterben lassen. Denn als Folge einer verfehlten Politik, die sich auch vom Volk nicht dreinreden lässt, sterben nicht wirklich die Politiker, aber es sterben Menschen.

Der Autor hat hier über das Zustandekommen der einen im Beitrag erwähnten Kirchentagsresolutionen berichtet und war an deren Zustandekommen sowie der weiteren Arbeit mit ihr aktiv beteiligt.

Zur Thematik Nordsyrien/Westkurdistan vgl. auch sein als redaktionellem Beitrag veröffentlichte Interview mit Sinem Muhammed und den Bericht und die Diskussion über einen von der Opposition geforderten Politikwechsel.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

ChristianBerlin

Theologe (Pastor) und Journalist, Berlin. Mitglied im Journalistenverband Berlin-Brandenburg (JVBB) und im Pfarrverein-EKBO. Singt im Straßenchor.

ChristianBerlin

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