YouTube statt Jauch: Die Kanzlerin stellt sich dem Volk

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"Auf diesen Moderator kann sich die Kanzlerin besser verlassen als auf die eigenen Leute", urteilte Jakob Augstein jüngst in einem BlogBeitrag auf freitag.de, nachdem Günther Jauch in der ersten Sendung des jetzt nach ihm benannten Fernsehformats die Kanzlerin eine "durch unangenehme Nachfragen weitgehend ungestörte einstündige Regierungserklärung" halten ließ.

Ab heute kann das ganze deutsche Volk unter Beweis stellen, dass es das besser kann. Wer möchte, darf ab sofort bis zum 7. November bei Youtube auf dem Regierungskanal www.youtube.com/bundesregierung versuchen, die Kanzlerin mit Fragen in die Enge zu treiben.

Am 18. November will dann die Kanzlerin antworten, allerdings nur die ersten 10 Fragen. Das sind die, die am 13. November beim Ranking die meisten Unterstützer haben.

Ob dann wirklich interessant sein wird, was die Kanzlerin antwortet, hängt vor allem davon ab, ob das Volk mit seiner Schwarmintelligenz dazu auf die richtigen Fragen kommt und die dann auch erkennt und im Ranking nach vorne bringt.

Wenn die ersten 19 Fragen, die gleich nach Bekanntwerden der Aktion auf der Seite gestellt wurden, repräsentativ sein sollten, wird das die Erwartungen eher dämpfen. Zu speziell oder zu allgemein, zu suggestiv oder zu offen dürfen sie nicht sein, sonst sind ausweichende Antworten vorprogrammiert.

"Finden sie, dass wir in Deutschland wirklich eine Demokratie haben?"

"Steht der Euro vor dem aus?"

"Wann wird Frau von der Leyen endlich der Stuhl vor die Tür gesetzt?"

"Wer kommt für die Produktionskosten zum Betrieb eines solchen Youtube-Kanals auf? Partei oder Bürger?"

gehören noch zu den einfacheren mit sehr allgemeinem oder sehr speziellem Inhalt.

Fragen wie

"Was unterscheidet uns noch von einer Bananenrepublik?"

haben dagegen einen Vorspann, in dem sie auf aktuell diskutierte Verfassungsverstöße wie den Staatstrojaner, das Wahlrecht, SGB II oder die Geheimpolitik des Bundessicherheitsrats verweisen. Verfassungstreue und Transparenz ist neben künftigen Euro-Zahllasten der größte Fragenkomplex.

Bei anderen Frage bleibt Nichteingeweihten der konkrete Bezug zunächst unklar. Bei

"Warum wehren Sie sich so vehement gegen mehr direkte Mitbestimmung der Bürger?"

ist nicht sofort klar, gegen welchen konkreten Vorstoß von welcher Seite sich da jemand gerade vehement wehren soll. Wird da die Existenz einer heißen Abwehrschlacht nur suggeriert?

Wenn die momentan wichtigsten Befürworter von mehr direkter Demokratie klever sind, nutzen sie diese Aktion der Kanzlerin, um sie mit einem Blick über den Tellerrand konkurrierend auszuwerten. Hier melden sich andere zu Wort als die, die bei "Liquid Domcracy" mitmachen, die aber auch an mehr politischer Mitsprache interessiert sein könnten. Wahrscheinlich ließe sich Bürgerpotenzial mit einem gekonnten Piratenstück abschöpfen und nutzbar machen.

Aber auch die klassischen Parteien könnten die Aktion der Kanzlerin nutzen, um sich über ihre eigenen Antworten auf die Top 10 unter den YouTube-Fragen volksnah zu profilieren. Bei einer solchen Premiere ist ihnen Aufmerksamkeit gewiss.

Zunächst muss dazu allerdings eine Beteiligung in Gang kommen, die eine kritische Masse überschreitet, um messbare Effekte nicht nur von Schwarm, sondern auch von Intelligenz generieren zu können. Damit steht und fällt die Sinnhaftigkeit und der politische Effekt des ganzen Experiments.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

ChristianBerlin

Theologe (Pastor) und Journalist, Berlin. Mitglied im Journalistenverband Berlin-Brandenburg (JVBB) und im Pfarrverein-EKBO. Singt im Straßenchor.

ChristianBerlin

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