Im Zeichen des Schlagworts

Medien Was ändern Hashtag-Debatten wie #unten? Michael Angele und Andreas Bernard diskutieren
Ausgabe 47/2018

Laufen Debatten im Zeitalter der sozialen Medien grundlegend anders als früher? Der Deutschlandfunk fragte vergangene Samstag in seiner Sendung Streitgespräch beim Freitag-Chefredakteur Angele und beim Medienwissenschaftler Bernard nach. Wir dokumentieren das Gespräch in einer überarbeiteten Fassung.

(Deutschlandfunk): Herr Angele, inwiefern könne Hashtags die Debatte voranbringen?

Michael Angele: Ich würde fragen wollen: Können Hashtags Debatten auslösen? Ja, das können sie. Der Freitag hat es vorgemacht mit dem Hashtag #unten. Deswegen würde ich sagen, im Wortgebilde „Hashtag-Debatte“ interessiert mich vor allem die „Debatte“. Was bringt sie? Bringt sie eine Gesellschaft voran?

Herr Bernard, bitte.

Andreas Bernard: Natürlich ist es so, dass der Hashtag Debatten lancieren kann. Dass er Stimmen bündeln kann, die sonst vielleicht ungehört geblieben wären. Eine Problematik des Hashtags liegt aber in der Nivellierung oder der Homogenisierung von Debatten. Schlichtweg aus dem Grund, weil alle Beiträge, die im Lauf einer Debatte gehört werden können, unter dem gleichen Schlagwort oder Motto oder Hashtag formuliert werden müssen.

Herr Angele, der „Freitag“ hat mit dem Hashtag #unten vor zwei Wochen begonnen. Was hat denn in den klassischen Medien zum Thema soziale Gerechtigkeit, zum Thema Armut gefehlt?

Angele: Jetzt könnte man ein wenig pathetisch sagen: Gefehlt haben viele authentische Stimmen. Aber man kann natürlich nicht von einer quasi reinen Erfahrung von prekärem Dasein sprechen. Der Hashtag nivelliert und filtert schon, wie Andreas Bernard in seinem Buch schreibt. Und sehr schnell war die Kritik zu vernehmen, dass der Hashtag #unten auch ein bisschen Etikettenschwindel betreibt, weil er ja nicht die von ganz unten erreicht.

Weil die kein Smartphone und keinen Twitter-Account haben?

Angele: Smartphones haben sie vielleicht schon, aber Twitter ist nicht ihr primäres Ausdrucksmedium. Aber interessanterweise wurde ich selbst Opfer einer bestimmten Rezeption von Twitter. Mir wurde gesagt, dass es schon Stimmen von denen, die ganz unten sind, gibt, die aber verschüttgehen, weil die anderen, die von einem schwierigen Aufstieg berichten, mehr Zustimmung erfahren, weil die mehr geteilt werden. Das heißt: Man muss Twitter auch lesen und verstehen lernen.

Zur Person

Andreas Bernard (geb. 1969) ist Publizist und Kulturwissenschaftler. Aktuell lehrt er an der Leuphana Universität in Lüneburg am Centre for Digital Cultures. Diesen Oktober erschien sein neues Buch Das Diktat des Hashtags. Über ein Prinzip der aktuellen Debattenbildung im Verlag S. Fischer

Herr Bernard, es heißt, Twitter gibt Menschen eine Stimme, die vorher überhört wurden, die in den klassischen Medien nicht wahrgenommen wurden. Das ist ja erst mal ein demokratischer Gedanke, oder? Warum sprechen Sie dann von Diktat?

Bernard: Bei den großen amerikanischen Hashtags wie #Blacklivesmatter oder #Ferguson kann man genau nachvollziehen, dass der afroamerikanische Teil der US-Bevölkerung nach solchen Tötungsdelikten, die diese Hashtags ausgelöst haben, entweder ignoriert oder nur in verzerrter Art und Weise vom System der Massenmedien repräsentiert wurde. Und da ist es natürlich ein demokratischer Gedanke, zu sagen: Über soziale Medien, über Hashtags schaffen wir ein Forum von Gegenöffentlichkeit. Die Frage ist eben nur: Was bedeutet das für die Öffentlichkeit einer Zeit, wenn alles schlagwortorientiert ist?

Das Schlagwort ist ja zentral für Ihre Analyse des Hashtags.

Bernard: Als Kategorie hat das Schlagwort noch vor 15 Jahren eine absolut marginale Existenz geführt. Nur Archivare kannten es. Oder Studenten, die einen Schlagwortkatalog genutzt haben. Aber das Schlagwort als ein Prinzip, das jede Art von öffentlicher Äußerung oder Debattenkultur prägt, ist ein radikal neues Phänomen – durch den Hashtag. Und davon könnte man gewisse kritische Punkte ableiten, die Herr Angele schon genannt hat: Aspekte der Filterung, Aspekte der Nivellierung, Aspekte der Homogenisierung. Was begünstigt der Hashtag? Was blendet er aus? Nicht-Rubrizierbarkeit, Einzigartigkeit ...

Herr Angele, was erschlägt das Schlagwort? Wen erschlägt es?

Angele: Eigentlich niemanden. In Kenntnis der Debattenkultur der letzten Jahrzehnte würde ich sagen: Eine gewisse Form von Verschlagwortung gab es in Debatten immer. Die „Walser-Debatte“ etwa, die Auseinandersetzung um Martin Walser und seine Rede in der Paulskirche, eine sehr komplizierte Debatte, wo es um deutsche Vergangenheitsbewältigung geht, ist auf ein Schlagwort runtergebrochen worden. Wenn das nicht geschehen wäre, hätte es aber die Debatte auch nicht gegeben.

Jetzt ist der Hashtag #unten in der Welt. Was soll jetzt geschehen? Außer, dass sich viele Leute daran beteiligen?

Angele: Ich könnte sagen: Auf die Debatte muss die Politik folgen, sie muss die richtigen Schlüsse daraus ziehen. So weit würde ich aber nicht gehen. Ich würde bescheiden sagen: Die Debatte muss ein bestimmtes Niveau erreichen. Das heißt, eine bestimmte Form der Reflexivität. Wie es ja übrigens bei #MeToo nach meiner Beobachtung dann geschehen ist. Am Anfang war das sehr aktivistisch, auch – was Sie, Herr Bernard, zu Recht einklagen – eine gewisse Form der Abweichung ausschließend. Aber das ist ja mittlerweile nachgereicht worden. Eben nicht mehr im Medium von Twitter, sondern sehr klassisch in der Zeitung. Und das finde ich toll: dass es an die mögliche Rolle der Zeitung heute erinnert.

Bernard: Vielleicht könnte man ja das sagen, dass die Hashtags die Steigbügelhalter der Debatte sind. Dass der Diskurs, wenn er eine Debatte werden will, aber keinesfalls Hashtag-zentriert oder auch Twitter-zentriert bleiben darf. Im Format von ehedem 140, jetzt 280 Zeichen kann nur eine Schreibweise praktiziert werden, die an ihre Grenzen stößt. Auf der einen Seite hat diese aphoristische Schreibweise tolle neue Formen der Pointierung hervorgebracht. Auf der anderen Seite muss es dann schon einen Transfer geben zu einem größeren, einem argumentativeren Format, das sich dann eben über Schlagworte erhebt.

Herr Bernard, Sie sagen, dass Twitter ein Medium ist, in dem Aphorismen große Wirkung erzielen können, in dem es auch ironisch zugehen kann, pointiert, satirisch: Wie ernst wird denn dieses Medium genommen, zum Beispiel von Politikern?

Bernard: Wenn man sich die Zahlen ansieht, hat man schon das Gefühl, dass Twitter ein Medium ist, das es bislang in Deutschland zumindest nicht in das Zentrum der Kommunikation geschafft hat. Im Gegensatz zu einem sozialen Medium wie Facebook, das eine riesige Auslastung hat und das mittlerweile bei einer bestimmten Avantgarde deswegen schon nicht mehr interessant ist, hat Twitter immer noch ein bisschen den Geruch des Avantgardistischen.

Angele: So absolut würde ich das nicht sagen. Ich habe mich neulich in einem anderen Zusammenhang mit einem SPD-Granden getroffen, einem „Early Adopter“ unter den Twittereren. Er hat offen gestanden, dass für ihn die tägliche Twitterei die Öffentlichkeitsarbeit weitgehend ersetzt. Das heißt, er wird vielleicht nicht von der Basis gelesen, aber von den Journalisten. Es geht um Verstärkereffekte.

Bernard: Wo dem Hashtag geradezu eine irrsinnige Macht zukommt, ist in der Welt des Marketings. Der Hashtag auf Instagram – wo jedes Bild, das man postet, immer einen Hashtag tragen muss – ist im Moment das wichtigste Werkzeug einer Kampagne. Wenn ich eine Instagram-Kampagne lancieren will als Dienstleister oder als Produkthersteller und ich schaffe es, einen Hashtag meinem Produkt oder meiner Dienstleistung zu verleihen, der dann von zehntausend, hunderttausend Nutzern auch benutzt wird, dann ist das der Jackpot. Wir müssen uns, wenn wir über den Hashtag reden und über die Hashtag-Debatten, darüber im Klaren sein, dass er nicht in erster Linie ein Element des politischen Diskurses ist, sondern ein Element des Marketings. Und es scheint mir eben überhaupt kein Zufall, dass Marketing und politischer Aktivismus beide den Hashtag so lieben. Es geht beide Male darum, über den Hashtag Akkumulation zu schaffen, Kampagnen-Öffentlichkeit zu schaffen. Mit einem romantischen Wort gesprochen, rückt so das Einzigartige eines Statements, das nicht Kategorisierbare, in den Hintergrund.

Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen beschreibt den aktuellen Zustand der öffentlichen Debatte als „große Gereiztheit“. Er schreibt, das habe auch mit der Emotionalisierung, mit der Dauerempörungsbereitschaft im Zeichen des Hashtags zu tun. Wie irrational, emotional sind Statements mit dem Rautezeichen?

Angele: Es gibt diese Gereiztheit natürlich, wer empfände sie nicht. Ich glaube aber, es kommt je länger, je mehr darauf an, wie sehr man sich reizbar machen lässt. Es geht da also sehr stark um Umgang mit Medien wie Twitter und den Debatten, die folgen. Es prasselt ja jetzt auch ganz viel Kritik auch auf uns ein. Die Kritik an so etwas wie #unten kommt automatisch. Aus allen Ecken. Manche Einwände sind berechtigt, andere weniger. Die weniger berechtigten reizen. Da gilt es eben, cool zu bleiben! Das wünschen sich jetzt viele, denke ich, und da hat uns der Rechtspopulismus auch einen großen Gefallen getan: weil er permanent versucht, diese „große Gereiztheit“ zu inszenieren, wollen sich die anderen dagegen immunisieren.

Bernard: Ich glaube ja, dass dieser Eindruck, von dem Sie gesprochen haben, auch entscheidend damit zu tun hat, wie man zum Beispiel Twitter liest. Und ich glaube, dass dabei vielleicht gar nicht so sehr die Kürze der Beiträge eine zentrale Rolle spielt, sondern das Potpourri der Stimmen. Sagen wir, ich folge einigen tausend Leuten und schaue mir meine Twitter-Timeline alle paar Stunden an, dann begegne ich hunderte von Stimmen, Stakkato-mäßig, Tweet für Tweet für Tweet für Tweet. Und das ergibt beim Lesen einen Erregungszusammenhang, der ja anders ist als bei Lektüren in älteren Medien, in denen man den Diskurs eines Autors oder einiger Autoren rezipiert.

Also doch Gereiztheit? Jedenfalls nicht Coolness …

Angele: Die Beschreibung, die Herr Bernard gerade geliefert hat, erinnert mich ein bisschen an den Aufsatz von Simmel zum Großstadtbewohner.

Bernard: Von 1908, schon sehr lange her …

Man neigt ja zum Kulturpessimismus …

Angele: Wir nicht! Simpel gesprochen, hat Simmel beschrieben, was passiert, wenn der Großstadtmensch sich ständig diesen Reizen ausgesetzt sieht. Er kann gar nicht anders, als cool zu werden. Blasiert ist sein Wort. Und ich würde jetzt nicht für Blasiertheit aktiv werben. Aber eine gewisse Gelassenheit fände ich okay.

Herr Bernard, wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass es weitergeht, nach den Hashtags?

Bernard: Mit der Debatte?

Oder mit konkreten Schritten, mit konkreten Veränderungen …

Bernard: Vielleicht kann man das an #MeToo sehen. Gut möglich, dass man im Rückblick sagen wird, dass der Hashtag #MeToo eine Zäsur gesetzt hat in dem Bewusstsein, wie man miteinander umgeht. In dem Sinne denke ich schon, dass dem Hashtag eine gewisse Macht zukommt. Es ist halt nur die Frage, wie man diese Debatten bestreitet. Und was man aus ihnen zieht.

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