Die kürzeste Nacht

Kehrseite Kehrseite II

"Wahnsinn", dachte ich, "da sitzt man nur siebeneinhalb Stunden im Zug und schon ist man an der Nordsee!" Die Mitreisenden waren auch nicht die üblichen schlecht aussehenden vulgären Männer mit Laptops, sondern ganz normale Leute mit Sandalen und Rucksäcken, Urlauber, Sommerfrischler, bei deren Anblick ich mich schon im Zugabteil ganz durchgelüftet fühlte.

Und hier am Bahnhof Westerland musste man sogar die Jacke anziehen, weil der Wind so kühl wehte. Sylt also! Die Insel der Reichen und Schönen; oder waren es die Reichen und Nackten? Ich hatte keine große Erfahrung mit Norddeutschland und seiner Inselwelt. In Erdkunde war ich immer schlecht; bis kurz vor der Abfahrt hatte ich noch gerätselt, ob dieses Sylt nun an der Ostsee oder Nordsee liegt, aber dann war mir der Ärztesong eingefallen: "Ich will wieder an die Nordsee, ich will zurück nach Westerland", und jetzt stand ich selber da. Ob die Ärzte jemals hier gewesen waren? Vor der zierlichen Fußgängerzone mahnte ein Schild: "Vernünftige fahren hier nicht mit dem Rad, anderen ist es untersagt", ich fühlte mich gleich angegriffen, obwohl ich doch gar nicht gemeint sein konnte, als Fußgängerin. Trotzdem: Diese unfreundliche, besserwisserische, fast verletzende Formulierung. "Das ist eben protestantisch- puritanisch, nordisch vernünftig", dachte ich.

Die Straße war voller Senioren, gutmütige Omagesichter neben mürrischeren Opas. Auch ein paar weniger gutmütige Frauen in hellrosa Kleidung mit edlen Tüchern, ledernen Gesichtern und deformierten Begleitern, fuhren in monströsen Luxuslimousinen vorbei. Waren das noch Besserverdienende, oder schon Primaverdienende oder Sich-dumm-und-dämlich-Verdienende?

Es war erst sieben Uhr abends, aber die Geschäfte waren schon geschlossen. Nur ein Imbiss hatte noch geöffnet: "Currywurst, Schaschlik, Champagner", verhieß die Schrift über der Eingangsfront. Das Tagesangebot war mit zierlicher Mädchenschrift in Kreide gemalt: "Currywurst mit Blattgold und ein Glas Champagner. 12, 50 Euro." Das sollte ironisch gemeint sein, selbstironisch, ein augenzwinkerndes Zitat ein Spiel mit der eigenen Protzerei ...

Aber waren diese Leute, war Sylt überhaupt ironiefähig? Endlich fuhr der Bus ab, recht viel Landschaft zog am Busfenster vorbei, FKK-Strände, Hundestrände, Campingplätze, hier hatte alles seine Ordnung, hier war an alles gedacht, hier sollten alle ihren Platz finden.

Der Bus hielt an einer Ferienhaussiedlung, ich stieg aus, stand plötzlich in freier Landschaft, neben Dünen und grünen Hecken in fast beängstigend frischer Luft, und wieder dachte ich: "Da fährt man nur sieben Stunden mit dem Zug und wartet eine halbe Stunde und fährt dann noch mal 20 Minuten mit einem Bus, und schon ist man voll in einer anderen Welt."

In den schönen grünen Hecken hingen Abfall und zahllose zerknüllte Papiertaschentücher, und ich wollte schon ein bisschen traurig werden über den allgegenwärtigen Schmutz und den Abfall in der Welt, als ich bemerkte, dass der Berliner Blick mich gefoppt hatte. Es waren weiße Heiderosen, von Müll absolut keine Spur. Auf die weißen folgten die roten Heiderosen; es war doch unfassbar lieblich hier, fast übertrieben schön.

Heute war die kürzeste Nacht des Jahres, und ich hatte fest vor, so lange aufzubleiben, bis es wieder hell wurde. "Das ist man sich schuldig", dachte ich und überlegte, ob es hier im Norden vielleicht sogar schon früher wieder hell werden könnte als in Berlin. Aber da neben den nicht vorhandenen geographischen auch die astronomischen Kenntnisse fehlten, gab ich den Gedanken auf, als er anstrengend wurde. Lieber etwas Angenehmes denken. "In Berlin ist es ja leicht mit dem Sonnenaufgang", dachte ich dann, "man verabredet sich, geht um elf aus dem Haus, trifft sich wo, geht dann vielleicht zusammen noch woanders hin und sitzt und trinkt und hört Musik und kommt so ins Reden, und schon sieht man einen hellen Streifen am Himmel, und dann sagt einer: "Ich glaub es wird schon wieder hell", und man fühlt sich so romantisch.

Aber hier muss es ja erst einmal dunkel werden, bevor ans hell wieder gedacht werden kann. Kaum war ich auf der Insel angekommen, hatte ich alles gleich vieles vergleichen müssen, den Norden mit dem Südwesten, die Ostsee mit der Nordsee, Rügen mit Sylt, den Bodden mit dem Watt ...

In der Ferne sehe ich eine Gestalt den Heiderosen bekränzten Heckenweg entlang kommen; vielleicht werde ich ja abgeholt. Es wird schon alles gut werden, es wird dunkel werden und wieder hell, und ein Erlebnis wird es geben.


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