Niemand in Nikosia kann die Augen vor der riesigen türkisch-zyprischen Flagge verschließen, die auf die Hauptstadt hernieder schaut. Auf dem Gebirgszug Richtung Keryneia erstreckt sie sich provokant in den Ausmaßen eines ganzen Dorfes. "Ne mutlu türküm diyene" ("Wie glücklich ich bin, ein Türke zu sein") steht daneben in gewaltigen Lettern. Die griechischen Zyprer im Süden empfinden die Fahne als tägliche Schmach. Altpräsident Glafkos Klerides hat extra seinen Schreibtisch im Arbeitszimmer umstellen lassen, um ihr den Rücken zu kehren.
Für die Zyperntürken im Norden allerdings wirken die Flagge und der Satz von Kemal Atatürk wie ein zweites Rückgrat, das ihnen zu Souveränität und Selbstbewusstsein verhilft. Sie haben auf dieser kleinen Insel ihr eigenes Land. Sie fühlen sich nicht mehr als 18-Prozent-Minderheit, die ihre Rechte immer wieder von Neuem verteidigen muss - nur stehen sie mit ihrem Stolz auf den eigenen Staat ziemlich allein auf weiter Flur. Die "Türkische Republik Nordzypern" (TRNC) wird international nur von der Türkei anerkannt, handelt es sich doch um einen Staat, den es laut Völkerrecht gar nicht gibt und der in offiziellen Verlautbarungen von Rechts wegen in Anführungszeichen gehört.
Keine Direktflüge, woher auch immer
Am Hafen von Famagusta, für die Venezianer im Mittelalter ein lebhafter Handelsplatz, zuckelt ein Gabelstapler am Kai entlang. Die Apfelsinenkisten wackeln bedenklich, ehe sie im Bauch des Frachters verschwinden. Zielort: Türkei. Der Hafenarbeiter wischt sich den Schweiß aus der Stirn, hier wird das Stückgut noch in Handarbeit verladen. Eine moderne Containeranlage lohnt sich in Famagusta nicht. Wenige ausländische Schiffe haben hier nach 1974 noch ihren Anker geworfen - der direkte Handel mit anderen Ländern ist durch das internationale Wirtschaftsembargo ausgeschlossen.
Der Boykott bereitet auch der Tourismusindustrie Kopfschmerzen. "Was nutzen die herrlichen Strände, wenn die Urlauber einen Umweg in Kauf nehmen müssen", meint Abdel Ilah, Touristen-Guide in Keryneia. Alle Wege nach Nordzypern führen über die Türkei. Die Zahl der Fluglinien, die auf dem Ercan-Flughafen starten und landen, beschränkt sich auf Turkish Airlines und KTHY, die Gesellschaft der Republik Nordzypern. Keine Direktflüge, woher auch immer.
"Das verdirbt das Geschäft", schimpft Abdel Ilah. Suleiman Hussein dagegen ist es völlig egal, woher seine Ware kommt. "Yüncü", der Wollhändler, wird der 71-Jährige genannt. Sein bis oben hin vollgestopftes Geschäft in einer der Basarstraßen des türkischen Teils von Nikosia betreibt er seit 1959. "Feinste Ware, fühlen Sie mal!", lockt er seine Kunden. In seinem Laden gibt es zwei Sorten von Wolle - die eine stammt aus der Zeit vor 1974 und kommt aus Deutschland, Belgien, England und Frankreich. "Die habe ich damals noch selbst besorgt. Mit meinem Opel bin ich durch ganz Europa gefahren, um Einkäufe zu erledigen". Die andere Wollsorte ist türkischer Herkunft. Seit 1974 kann Suleiman nur noch in der Türkei bestellen, aber auch damit ist er zufrieden. "Die Wolle aus der Türkei ist so gut und billig, dass die Fabriken in den anderen Ländern alle Pleite gemacht haben", prahlt er.
Kräht bald kein Hahn mehr nach uns?
Diese schlichte Lesart der Verhältnisse mag geeignet sein, missliche Realitäten zu überspielen, die jeder türkische Händler verkraften muss, ob er nun Textilien, Taschen, Tee oder Nippes verkauft, denn jeder kann seine Ware seit 1974 nur noch vom türkischen Festland beziehen - seit dem Wendepunkt auf der Insel am 20. Juli 1974.
Seinerzeit landeten türkische Truppen an Zyperns Küste. Sie kamen als Schutzmacht, wenige Tage zuvor hatte die zyprische Nationalgarde unter der Führung griechischer Offiziere die Regierung des Erzbischofs Makarios gestürzt. Dass die Putschisten den als "Türkenkiller" bezeichneten Nikos Sampson als neuen Präsidenten inthronisierten, brachte das Fass zum Überlaufen, das seit 1963 Tropfen für Tropfen mit Animositäten zwischen den beiden Volksgruppen gefüllt worden war. Als die Invasion zum Stehen kam, waren 36,4 Prozent des Inselterritoriums unter türkischer Hoheit und fast 200.000 griechische Zyprer in den Süden geflohen, ein Drittel der Gesamtbevölkerung. Tote und Verletzte gab es auf beiden Seiten, bis heute werden weit über tausend Personen vermisst.
Ein Zurück gab es nicht mehr - aus der Invasion erwuchs eine provisorische Verwaltung der Zyperntürken, aus dieser entstand 1983 besagte "Türkische Republik Nordzypern", bevölkert mit Gastarbeitern aus dem Mutterland. Einer von den rund 140.000 Siedlern ist Ismail Çengis. "Ich war damals gerade 24 Jahre alt, als ich 1976 nach Keryneia kam. Es standen genug Häuser leer, in denen einmal Griechen gelebt hatten. Auch Arbeit gab es." Ismail blieb. In dem ihm zugeteilten Haus konnte er mietfrei wohnen, bis 1999 ein höchst symbolischer Kaufpreis fällig wurde.
Geblieben ist auch das türkische Militär. Etwa 45.000 Mann sind auf der Insel stationiert. Eine Präsenz der Stärke gegenüber den Griechen und den UN-Truppen, die schon seit 1964 auf Zypern patrouillieren. Durch die Siedler und das Militär leben dreimal mehr Festlandtürken in der TRNC als alt eingesessene Inseltürken. Davon gibt es noch 60.000, die sich hin- und her gerissen fühlen zwischen dem Schutz, den sie einem übermächtigen Mutterland verdanken, und dem Willen, endlich ihre Isolation zu durchbrechen. Der türkische Nationalstaat wirkt wie ein Korsett, das wenig Luft zum Atmen lässt, das der Norden aber braucht, weil er sonst in sich zusammenfallen würde. Jährlich fließen 250 Millionen US-Dollar Subventionen aus Ankara, sogar die Hymne hat die kleine einsame Republik von ihrem übermächtigen Schutzpatron übernommen.
Freilich treibt die Regierung Nordzyperns im Augenblick ein schwerwiegendes Problem um. Premierminister Mehmet Ali Talat, der gerade seine Demission eingereicht hat, beobachtet mit Sorge, dass sich die Türkei bei ihren EU-Ambitionen schon bald mit dem Wunsch konfrontiert sehen könnte, die Regierung der Republik Zypern im Süden als Administration für die gesamte Insel anzuerkennen (schließlich ist diese Republik seit dem 1. Mai EU-Mitglied). Sollte es dazu kommen - was wird dann aus der TRNC? "Die Türkei braucht uns doch nur, um nach Europa zu kommen", räsoniert Mohammed. Der Friseur in Nikosia nimmt sich viel Zeit, um jenes Thema mit seinen Kunden durchzunehmen. Und in diesem einen Punkt sind sich die meisten einig: "Ist der Weg nach Brüssel für die Türkei erst einmal frei, kräht kein Hahn mehr nach uns. Man wird uns einfach vergessen!"
Gescheitertes Zypern-Referendum
Kurz vor der EU-Aufnahme der "Republik Zypern" am 1. Mai 2004 wurde am 24. April im griechischen und türkischen Teil der Insel über einen UN-Friedensplan abgestimmt. Das von Kofi Annan im März 2003 vorgestellte Dokument sah eine schrittweise Wiedervereinigung Nord- und Südzyperns vor, bei der nach dem Schweizer Vorbild zwei kantonale Teilstaaten erhalten bleiben sollten. Ein gleichfalls vorgesehener Truppenabzug zielte darauf, die Zahl griechischer und türkischer Soldaten bis 2018 auf unter 1.000 Mann zu bringen.
Von den 200.000 im Jahre 1974 vertriebenen griechischen Zyprern sollte allerdings nur ein begrenzter Teil zurückkehren dürfen, um ihren Anteil auf nicht mehr als 18 Prozent der türkischen Bevölkerung in Nordzypern steigen zu lassen. Die Ansiedlung von Festland-Griechen und -Türken wiederum durfte eine Quote von mehr als fünf Prozent der jeweiligen Bevölkerungsgruppe nicht überschreiten. Überdies sollte sich der türkische Norden von acht Prozent seines Territoriums trennen.
Während sich die griechische Seite von Anfang an sperrte, wurden die türkischen Zyprer von der Regierung in Ankara aufgerufen, mit Ja zu stimmen. Am 24. April entschieden sich dann 75,8 Prozent der Zyperngriechen für eine Ablehnung des UN-Plans, bei den Zyperntürken votierten 64,9 Prozent für eine Annahme - die Konsequenz davon war, dass am 1. Mai die Republik Zypern nur für den Landessüden in die EU aufgenommen wurde.
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