Was immer der Dirigent tue, hat Elias Canetti geschrieben, werfe ein Licht auf die Natur der Macht. Stehen Frauen deswegen so selten am Pult der deutschen Symphonieorchester? Haben sie keine Lust auf Macht? Von den 131 öffentlich finanzierten Orchestern spielen nur fünf unter einer Dirigentin. Die Spitzenorchester halten sich besonders bedeckt. Gar keine Frau tritt bei den Berliner Philharmonikern in dieser Saison auf; die eine, die angefragt wurde, traute sich nicht.
Zum BR-Symphonieorchester kommt immerhin die finnische Dirigentin Susanna Mälkki, wenngleich für einen einzigen Abend mit Neuer Musik. Das Gewandhaus Leipzig hat die Amerikanerin Marin Alsop verpflichtet, die Staatskapelle Dresden die Litauerin Giedrė Šlekytė. Es sind Einzelfälle. Bei den Münchner Philharmonikern unterdessen, Tusch!, bittet man sogar für vier verschiedene Konzertprogramme eine Frau ans Pult. Der Tusch verklingt aber schnell, denn Barbara Hannigan wird nicht das symphonische Repertoire von Beethoven, Brahms, Bruckner interpretieren, sondern tritt als Sängerin und Dirigentin in Personalunion auf. So schön das ist, es bleibt jenseits des Kerngeschäfts, das die gigantisch bezahlten Kollegen bedienen.
Zweifellos geht es beim Dirigieren um Führungsstärke, und die ist – Rücksichtnahme, Freundlichkeit, Konsenswunsch als Bildungsidealen sei Dank – noch immer nicht weiblich kodiert. Wer sich nicht durchsetzen kann, ist fehl am Pult eines Orchesters, wer Argwohn oder Abneigung nicht erträgt, ebenfalls. Denn schließlich, was ist das Idealgewicht eines Dirigenten: 1400 Gramm inklusive Urne. Adorno sprach einst von der eingeborenen Renitenz des Orchestermusikers, seinem fast pubertären Wunsch nach Aufmuckerei. Selbst dort, wo Ensembles neue Modelle der Zusammenarbeit erproben, selbst dort, wo sie sich an Marketingmaßnahmen, Education-Projekten oder interpretatorischen Entscheidungen beteiligen, bleibt Autokratie als Prinzip lebendig, braucht zumal die Symphonik den bestimmenden, sogar bestimmerischen Menschen ganz vorn. Vor allem, wenn Einzelne im Orchester nicht einverstanden sind und dennoch gehorchen müssen. Insofern ist es lässlich, dass die eine Dirigentin bei den Philharmonikern abgesagt hat – auch junge Männer können sich scheuen, von Spitzenorchestern abgefrühstückt zu werden.
Erst seit dem frühen 19. Jahrhundert gibt es den Beruf, erst jetzt treten Komponisten öffentlich als Dirigenten der eigenen Symphonien in Erscheinung. Parallel stellte sich eine mediale Verschiebung ein, weg vom Spielen, hin zum Zuhören. In dieser Situation sortierte sich das Bürgertum und trennte: öffentlich, privat, groß, klein, Mann, Frau. Die „ ‚imago‘ des modernen Dirigenten“, hat die Musikwissenschaftlerin Cornelia Bartsch geschrieben, „ist durch die Geschlechterdifferenz strukturiert“. Nicht verwunderlich, dass zum Status des Mannes am Pult ein Herrschaftsanspruch gehörte, der prädestiniert war für Übergriffe, wie sie die MeToo-Debatte an anderer Stelle explizit gemacht hat.
Frauen hingegen sahen sich bereits in der Frühzeit des Berufs benachteiligt, weil das ihnen zugewiesene Kompositionsrepertoire in Formaten wie Liedern oder Klavierstücken bestand, die weder ans Licht einer Öffentlichkeit drängten noch dirigentische Betreuung benötigten. Zudem organisierten sich Orchester lange in Verbänden, zu denen Frauen keinen Zutritt hatten. Sie mussten selbst Orchester gründen oder in die Chorleitung ausweichen.
Es braucht darum Strukturreformen auf der vorprofessionellen Ebene und die Aufmerksamkeit der Hochschulen. Das Dirigentenforum des Deutschen Musikrats, ein Förderprogramm für junge Leute im Übergang vom Studium in die Professionalität, betreut gegenwärtig zwar nur drei Dirigentinnen, denen immer noch neunzehn Dirigenten gegenüberstehen. Doch erlernen junge Frauen und Männer inzwischen in annähernd gleichen Proportionen an deutschen Musikhochschulen das Dirigieren. Es kann also nur eine Frage der Zeit sein, bis mehr Absolventinnen in professionelle Zusammenhänge einrücken. Spitzendirigentinnen aus Skandinavien oder aus den Ländern des ehemaligen Ostblocks – Mälkki, Šlekytė, Anu Tali und Mirga Gražinytė-Tyla, die derzeit größte Nummer unter den Jüngeren – hatten hier offenbar einen Startvorteil, weil sie in einem anderen System groß geworden sind.
Am Ende geht es um Sichtbarkeit und sozialen Druck. Womöglich braucht der Betrieb Anweisung von außen. Wie es geht, zeigt das Beispiel von James Murphy. Seit der britische Orchestermanager für die Londoner „Southbank Sinfonia“ eine 50:50-Quotierung eingeführt hat, treten dort genauso viele Frauen wie Männer auf. Dem Orchester hat das viel Reputation eingebracht. Angesichts der Tatsache, dass junge Dirigentinnen und Dirigenten auf dem Weg in die Professionalität ohnehin auf eine lange Serie öffentlicher Konzerte angewiesen sind (wer kann schon ständig ein Orchester zum Üben bereithalten?), ist das eine vernünftige Lösung.
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